6 Uhr 41 – Zugfahrt mit Fragen, Vermutungen, Erinnerungen

Ein Bahnhof in Irgendwo, mit Halt von international verkehrenden Zügen. Auf dem Perron warten zwei Personen, die nach Paris wollen – aus unterschiedlichen Gründen.

Sie, Cécile, erfolgreich in Buchhaltung und Marketing, erschöpft dastehend, gereizt nach dem Wochenende bei ihren Eltern. Er, Philippe Leduc, einst Céciles Jugendliebe, geschockt übers Wiedersehen, sich fragend, ob sie ihn echt wiedererkenne – ob es nicht gescheiter gewesen wäre, einen anderen Zug zu nehmen.

 



6 Uhr 41 – Zugfahrt mit Fragen, Vermutungen, Erinnerungen

In der Kulturbuchhandlung Wortreich Glarus kam es zu einem inhaltsstarken, bewegenden Begegnen mit den Schauspielern Annette Wunsch und Gian Rupf.

Die Ausgangslage zu diesem beinahe anderthalb Stunden umfassenden Wiedersehen hat es in sich. Was redet man in solchen Momenten miteinander? Wie reagiert das Gegenüber? Was war in Zeiten des zuweilen stürmischen Miteinanders vor beinahe drei Jahrzehnten belastend? Was ergab sich an Verletzendem? Weshalb trennte man sich eigentlich? Gibt es Fakten, die nicht verarbeitet sind, wofür man sich zu entschuldigen hat?

Was hat sich seither ereignet? Welchen Lebensweg ist man gegangen? Ist man gescheitert oder darf man über Erreichtes echt stolz sein? Und – die Kernfrage – wie rettet man sich aus Verfänglichem, Peinlichem, Unerwartetem?

Das Potenzial an heftigen, vielleicht verletzenden Äusserungen, kluger Kontaktaufnahme, einem kleinen Flirt, Übertreibungen, Resignation, aufbauender Gesprächskultur, Umgang mit einst Vertrautem, begrüssenswerten Begehrlichkeiten ist riesig. Zwischen Cécile und Philippe macht sich erst mal Schweigen breit. Wohl beide fragen sich, weshalb sie sich ausgerechnet diesen und nicht einen anderen Zug für die bald beginnende Fahrt ausgewählt haben. Philippe Leduc bezeichnet den Zug als Ursache von Depressionen, die Minuten bis zur Abfahrt zählend. Er stellt sich schon mal als erfolgreicher Fachmann, in einem Einkaufszentrum vor, er ist spezialisiert für Kunden, die TV-Geräte und anderes aus dem unüberschaubaren Angebot an technischen Geräten zu erwerben trachten. Er ist die Zuverlässigkeit in Person, pflichtbewusst bis an die Grenze des eben noch Erträglichen – oder leicht darüber hinaus. Er, der 47-Jährige, erzählt – die Wartezeit überbrückend – was sich in seiner Familie so getan habe, wie lange die Jahre des Alleinseins zuweilen dauern.

Cécile, beruflich erfolgreich, kreativ, gefühlsbetont, impulsiv, mit dem Hang zu eruptiven Ausbrüchen, verletzlich – den 40. Geburtstag ebenfalls hinter sich – erinnert sich an vieles, was das damalige Zusammensein mit Philippe betraf. Es ist vor allem ein romantisches Wochenende in London, das total aus dem Ruder lief, so drehbuchartig verquert endete, überreich an Zuneigung, Seitensprung, Liebe und Romantischem war.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Wo platziert man sich? Soll man den Mitreisenden bewusst fernhalten? Das Spiel der Annäherung kann beginnen. Zuerst mit neckischen Vermutungen, mit dem Formulieren von Halbwahrheiten. Ist das Gegenüber wirklich noch so wie einst? Er, damals echt knackig, ein Schönling, Meister des Flirts. Sie eher resolut, dann wieder unsicher, verletzlich, verlegen, ausweichend, auf vielleicht wackeligem Fundament. Dialoge wollen nicht so verlaufen, wie man es sich wünscht. Cécile und Philippe reden von London, von den damaligen zerstörenden, verstörenden Momenten, sie streift ansatzweise das Geschehen in den anschliessenden 27 Jahren, die lange Zeit der getrennten Wege. Die Rede kommt auf Scheidung, das Schicksal der eigenen Kinder, auf Berufliches, den Zerfall von Beziehungen, das Schwinden der körperlichen Reize, auf Würde und Respekt, den aktuellen Lebensrhythmus, die Gründe der Reise nach Paris, den Versuch der Wiederholung des Aufenthalts in London, auf die eigenen Eltern, auf ganz vieles. Es ist, als würde ein Album, eigenes Leben in seiner Vielschichtigkeit enthaltend, aufgeschlagen.

Dann das Ende: Adieu, mach`s gut! Kein gemeinsamer Kaffee. Annette Wunsch und Gian Rupf – nicht zum erstenmal in der Kulturbuchhandlung auftretend – spielten intensiv, sich mit immensem Geschick und Können in die Rollen hineinbegebend. Viel Beifall war der verdiente Lohn auf den in grellem Grasgrün gehaltenen Platten – die man zu einem bescheidenen Preis erwerben und heimnehmen konnte.

Warum das? Es sei, so Gian Rupf, der letzte von vielen Auftritten, und diese Platten wolle er nicht mehr heimnehmen. Es fanden sich gut gelaunte Abnehmer. Es war noch zu vernehmen, dass dieses Stück am 16. Oktober auf Radio SRF als Hörspiel gesendet und dass das Wortreich-Kulturprogramm fürs zweite Halbjahr in wenigen Wochen publik gemacht werde.