Arno Camenisch und «Der letzte Schnee» – Begegnung im Wortreich Glarus

Vor ausverkauftem Haus konnte Christa Pellicciotta, Geschäftsführerin der Kulturbuchhandlung Wortreich Glarus, Arno Camenisch und den Akkordeonisten Hans Hassler gar herzlich begrüssen. Arno Camenisch ist vielen der Angereisten bestens vertraut, war er doch bereits zum siebten Mal Gast in unserer Kulturbuchhandlung.



Es kam ganz anders als auf dieser Karte geschrieben stand. (Bilder: p.meier) Voll besetzte Buchhandlung Wortreich. Arno Camenisch. Hans Hassler
Es kam ganz anders als auf dieser Karte geschrieben stand. (Bilder: p.meier) Voll besetzte Buchhandlung Wortreich. Arno Camenisch. Hans Hassler

Erstmals war das 2012 mit «Uustrinkata» der Fall. Sein Schreibstil ist willkommen eigenwillig. Die Inhalte sind erfrischend geerdet. Camenisch ist ein subtil Betrachtender, ein aufmerksam Hinhörender, ein Mitträumender, Geniesser, liebenswürdiger Fantast, Menschenkenner und riesig geschickter Wortakrobat. Der poetische mit eigenwilliger Wortwahl wahrlich garnierte Reichtum um die heiteren Geschehnisse kommen an.

Die Lesung aus seinem unlängst im Engeler-Verlag erschienenen Buch «Der letzte Schnee» kam einem Ausflug in die herrlich farbenfrohe Welt der zwei Skiliftbetreuer gleich. Der Paul und der Georg schlagen sich nicht einfach Zeit um die Ohren, wenn sich niemand auf den Schlepplift wagt. «Der Schlepper» – wie sie ihn liebevoll nennen und aus dem Jahr 1971 stammend – ist riesig in die Jahre gekommen. Er ruckelt und wackelt. Nutzer werden gemächlich nach oben gezogen. Aber eigentlich will man gar nicht hinauf. Lieber bleibt man beim Paul und beim Georg hocken, hört ihnen zu und freut sich gewaltig über die Vielzahl der Erlebnisse, die sich zumeist fern der Talstation abspielen. Aber das Häuschen ist dank dem Paul und dem Georg so etwas wie ein «Nervenzentrum». Erlebnisse wachsen ab Talstation.

Arno Camenisch zieht seinen Schreibstil mit beeindruckender Kompetenz und Konsequenz durch. Es ist eine unnachahmlich herrliche Vermischung von Mundart, ein klein wenig Kirchenlatein, Englisch, Hochdeutsch und markigen Kraftausdrücken. Und alles passt einfach riesig gut zueinander, birgt Humor, Lebensweisheit, lapidares Feststellen, deutliches Kommentieren, Erlebnisfaktor im Fünfstern-Bereich, hat zuweilen gar deutlichen, knorrigen Gedankenaustausch in sich und weckt bei den Lesenden mit hoher Gewissheit Anteilnahme, Lust am Weiterlesen, Lachen, leises Kopfschütteln wegen dieser Chnorzbrüder, deren feine Rituale bei der morgendlichen Inbetriebnahme des Schleppers einen ganz kleinen Kultstatus haben.

Das Hervorholen des Schurnals, das Hochlitzen der Ärmel, die Konsultation der Armbanduhr, das Räsonieren übers Wetter, das Zurechtrücken der Kopfbedeckung, das Durchzählen der verfügbaren Skiliftbügel, die Schneeräumung ums Hüttchen und auf dessen Dac, Zigarette und Zündhölzchen sind wiederkehrende Elemente.

Den Georg und den Paul muss man einfach liebgewinnen. Das sind zwei Originale, wie es sie wohl vielerorts gibt und die dank der Fabulierkunst von Arno Camenisch manches zum Leben erwecken, das sonst unbeachtet bliebe. Die Gemütslage der beiden Hauptpersonen ist unbestritten einzigartig. Sie durchforsten ihr gesamtes Leben, verquicken es dank grossem Erfahrungsschatz über Lokalgeschichtliches mit den Schicksalen anderer und lassen jedes verschlafene, kleine Bergdorf in Windeseile vergessen. Gemächliches, Betuliches fügt sich zu Unerwartetem, ist so munter, liebenswürdig. Arno Camenisch ist mit dem Georg und dem Paul zur genussvoll einherlebenden Einheit geworden.

Und wenn das wechselreiche, amüsante Mitvollziehen für die Lesenden erst mal begonnen hat, gibt es über die genau 99 Seiten hinweg kaum Zeit zum Innehalten – in der kleinen eigentlich gemütlich eingerichteten kleinen Talstation, die alles in sich birgt, was es für die kleine Feierstunde, die notwendigen Reparaturen und Unterhaltsarbeiten und das Verweilen in den vielen Stunden ohne die längst erwarteten Gäste braucht. Stets werden die vom kauzigen Duo mit der gebührenden Aufmerksamkeit empfangen und dank Berglercharme auf ungeschrieben Gesetze aufmerksam gemacht, als da sind: Bezahlen ausschliesslich mit Bargeld, nicht Vordrängen, in der Spur bleiben. Und in langen Zeiten des Wartens wachsen Geschehnisse, die Camenisch mit unnachahmlichem Charme und riesigem literarischem Geschick zu schildern versteht. Im Wirrwarr der sprachlichen Vermischungen findet man sich bald zurecht. Da kommen Ausdrücke, deren Bedeutung schnell rausgefunden ist. Beispiele seien erlaubt: Kindels, vuala, Gottsnama, sez la cuolpa, räumte den Tresor Rubas e Stubas aus; die Oligiarchen aus dem Unterland; Wuchaplätzler; Houdine – der Zauberer aus La Merica; Pirschbär; trümlig; l `Amur d a Diu; Schurna, Trümlichopf, Herzbaracca, l …

Und über alle Seiten hinweg will es nicht enden. Neben Vergnüglichem steht auch durchaus Besinnliches, fliessen Erfahrungen ein, die nur gewachsen sind, weil der Paul und der Georg schon so lange gemeinsam tätig sind, sich bestens verstehen, sich in- und auswendig kennen und damit auch mit den Eigenheiten des Gegenübers klarkommen. Das sind oft Kleinigkeiten, die Erheiterung zu wecken vermögen, die zu einer der unzähligen Geschichten wachsen und in charmantester Art zum Weiterlesen einladen – bis der Schlepper seine Dienste aufgibt. Ist nun alles endgültig vorbei?
«Coffertori, sagt der Paul und hält die Hände in die Hüfte. Godo kommt nicht, sagt der Georg und schaut in den Himmel. Wer, fragt der Paul und schaut auch hoch»

Arno Camenisch wusste sich vom Akkordeonisten Hans Hassler einfühlend und brillant begleitet. Hassler entlockte seinem Instrument Klänge, die so gut zu den Stimmungen an der Talstation des Schleppers und den unzähligen Geschehnissen passten. Ein ganz kleiner Schuss Dramatik, Träumereien, Schalk, Freude und Wehmut, Tänzerisches und Verharren wusste der klug mitvollziehend Akkordeonist brillant auszudrücken – in willkommenem Wechsel zu den vielen wirbligen, munteren Geschichten. Camenisch las beseelt, mit unübersehbar theatralischem Geschick, in kurzweiliger Weise. Er erwies sich als einer, der vieles klug aufzunehmen und literarisch umzusetzen vermag. Man weilte in Gedanken bei jenem Lehrer, der sich nicht scheute seinem Hobby – dem Sammeln toter Vögel – auch vom Pult aus zu frönen und schon mal aus dem Zimmer unschuldige Piepsmatze mit seiner Flinte erledigte, man erlebte, wie zwei Bestattungen für die gleiche Person möglich sind, vernahm, dass der rothaarige Knabe wahrlich das Kind des Dorfpfarrers sei, dass man Zeugnisnoten nach dem Wurfprinzip problemlos auszustellen vermöge; dass der Gemeindeschreiber sehr willkürlich als Zeitnehmer bei Skirennen amte, weilte beim ewigen Eis oder bei Skifahrern; hockte im Nebel, der nicht weg wollte.

Und irgendwann einmal war Zeit für ganz viel Beifall, für den Dank an zwei tolle Gäste, die so grosse Anteilnahme geweckt hatten und die man gar nicht gerne ziehen liess. Arno Camenisch hatte viel zu signieren, konnte kurze Gespräche pflegen und wusste, dass man seinen literarischen Reichtum gerne in den eigenen vier Wänden geniessen würde – vielleicht zu Akkordeonklängen ab CD – natürlich von Hans Hassler.