Aufgekündigte Abhängigkeiten

Was ist im Film „verstrickt und zugenäht“ Fiktion, was ist Realität? Und was auf die Glarner Textilindustrie der vergangenen 200 Hundert Jahre bezogen? Erst einmal ist da der Erzählstrang und andererseits in den feinen Zwischentönen die Emanzipation aus patronhafter Abhängigkeit.



in der der Garnhändler Ruedi Canzoni (Hanspeter Müller-Drossaart) der Direktionssekretärin Martha Böhler (Emanuela von Frankenberg) einen alles entscheidenden Hinweis gibt
in der der Garnhändler Ruedi Canzoni (Hanspeter Müller-Drossaart) der Direktionssekretärin Martha Böhler (Emanuela von Frankenberg) einen alles entscheidenden Hinweis gibt

Im Wissen um das Verblühen der glarnerischen Textilindustrie werden viele ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter an ihre jahrzehntelange Tätigkeit in der einen oder anderen Fabrik erinnernd berührt werden beim Betrachten dieses Films. Vor allem in den ersten dreiviertel Stunden ist es, als ob in dokumentarischer Echtheit die Endzeit der Hochblüte des Glarner Textil-Zeitalters wieder auflebt. Ahnungen haben alle, dass das Ende nahen könnte, doch in Lethargie versunken, lassen sich alle treiben in der totalen Abhängigkeit vom Patron Rittmeyer. Bis dann eines Morgens das Ankommen in der Realität unvermeidlich ist. Und an diesem Punkt ist es mit der glarnerischen Realität – der heutigen Historie - vorbei. Anlehnend an den Filmtitel wäre dies die „zugenähte“ Phase und somit „unser“ Beitrag zum Drehbuch von Christa Capaul und Katharina Eckart.

Aus Not Eigeninitiative ergriffen

Private Not vorab von Lilli Rüegg (Marie Leuenberger) setzt ungeahnte Fähigkeiten bei ihr wie auch allen durch die feige Flucht des Patrons betroffenen Frauen frei. So beginnt für uns Glarner eine märchenhafte Wendung hin zum Guten, die wir, die Realität kennend, nur als Fiktion erkennen können. Denn in keiner der einstigen Textilfabriken kam es jemals zu einem Aufstand der Arbeitenden, kein Impuls hin zur Rettung des eigenen Arbeitsplatzes war zu verzeichnen. Not war allüberall nach dem Verlust der Arbeitsstelle, die Frage belastend, wie weiter?

Dass enorm viel Kraft und auch Mut für die Loslösung von Abhängigkeiten benötigt werden, das wird im Film unter der Regie von Walter Weber gleich in mehrfacher Weise eindrücklich und sehr einfühlsam nachgezeichnet. Denn hier erhält die Geschichte eine ganz andere Dimension: die Entwicklung der Frauen während der letzten 40 Jahren aus ihrer Abhängigkeit hin zu einem gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft. Ganz aus der Sicht der Film-Frauen wird diese Entwicklung gerafft in kurzer Zeit in verschiedenen Erzählsträngen wie auch Gesellschaftsschichten eindrücklich und temperamentvoll durch Verstrickungen in alten wie auch heutigen Mustern aufgezeigt.

Und welche Rolle ist den Männern zugedacht? Einerseits ihre ebenso parallel einhergehenden Veränderungen – ob zu ihrem Besseren? - und andererseits in der Darstellung durch Ruedi Canzoni (Hanspeter Müller-Drossaart), der dank dem „weichen Kern“ im Manne die initiativen Frauen aktiv unterstützt.

Gelingt das Neue?

Dieser Fernsehfilm ist historisch wie auch zeitlich lebensnah, nicht nur dank dem gelungenen Drehbuch und dessen Umsetzung durch die gesamte im Vorder- und Hintergrund wirkende Crew. Auch – und dies ganz besonders – durch die letzte kurze Filmsequenz, die das Geschehen nach einem Jahr aufzeigt. Doch die sei hier nicht verraten.

Schweizer Fernsehen SF1: Sonntag, 28. März 2010, 20.10 Uhr