Aus dem Tagebuch des Netschteler Samichlaus

Der Netstaler Samichlaus ist seit jeher in ein weisses Bischofsornat mit rotem Mantel gekleidet. Auf seinem Kopfe trägt passend dazu eine rote Mitra. In seiner Rechten hält er den Bischofsstab. Zu seiner Entourage gehören sein Knecht Ruprecht und zwei Schmutzlis als Bodygarde.



Samichlaus Tage in Netstal (Bild: hasp)
Samichlaus Tage in Netstal (Bild: hasp)

Zu meiner Zeit waren Netstals Samichläuse gleichzeitig Aktivmitglieder der Katholischen Jungmannschaft. Oberster Schirmherr war der legendäre Pfarrer Josef Barmettler, ein zwar liebenswürdiger, gleichzeitig aber auch erzkonservativer Pfarrherr. Deshalb war ich selbst überrascht, dass ausgerechnet er mich zum Bischof und obersten Netschteler Samichlaus auserwählt hatte, obwohl ich zugegeben nicht unbedingt eines seiner Lieblingskinder war. Warum Pfarrer Barmettler ausgerechnet mich zum Bischof beförderte, weiss nur er selber, doch wird er dieses Geheimnis auf Ewigkeit im Himmel behalten. Jedenfalls war ich nun plötzlich der höchste Samichlaus weit und breit und dieser Umstand machte mich mächtig stolz. Einmal hätten wir an einem Abend Anfang Dezember vier Familien mit Kindern verschiedenen Alters besuchen sollen. Mit Betonung auf sollen. Es lief halt wieder einmal anders als vorgesehen. Nachdem wir beim Katholischen Pfarrhaus, unserem Umkleidelokal, gestartet waren, ging’s schnurstracks zum ersten Kunden. Die Familie stammte aus unserem südlichen Nachbarland Italien und wohnte mitten im Dorf in einem Haus direkt an der Landstrasse.

Der degradierte Bischof

Das Familienoberhaupt, ein grossgewachsener, breitschultriger Italiener mit pausbackigem Gesicht, empfing uns freundlich lächelnd vor seiner Haustüre und übergab mir die Sündenliste seiner Tochter. Leicht eingeschüchtert stand das kleine, schwarzhaarige Mädchen mitten in der Stube und hielt zitternd die Hand ihrer Mutter. Nun denke ich, war ich kein «böser» Samichlaus. Ich begann einfühlsam und vorsichtig, dem Mädchen seine «Sünden» aufzuzählen. Es verlief eigentlich soweit alles optimal. Das liebe Kind trug noch sein Gedichtlein vor und wurde anschliessend von der Mutter ins Bett spediert, während der freundliche Gastgeber uns noch zu einem Glas Wein einlud. Ich mahnte meine Kollegen, dass wir eigentlich noch drei weitere Familien zu besuchen hätten. «Jännu», wegen eines kleinen Gläschens ist noch niemand gestorben und auch der Samichlaus muss mal Pause machen. So sassen wir vier Chläuse in der warmen Stube und der Hausmeister war eifrig daran, in der Küche feinen Salami zu schneiden. Dazu gab’s einen wärmenden Chianti. So verging die Zeit im Fluge und ich gab mittlerweile meinem Knecht Ruprecht Anweisungen, er solle den wartenden drei Familien mitteilen, dass etwas dazwischengekommen sei und wir am gleichen Abend nicht mehr vorbeikommen könnten. So wurde es dann in der gut geheizten Stube immer gemütlicher. Die erste Flasche Chianti wurde von uns vier Chläusen problemlos geleert und eine zweite durch den Chef des Hauses geöffnet. Mittlerweilen hatten wir uns der Bärte entledigt. Schliesslich lag ja die kleine Tochter bereits im Tiefschlaf in ihrem Zimmer. Meinten wir, denn urplötzlich stand Klein-Patricia unter der Türe. Mit grossen Augen und völlig desorientiert stammelte die Kleine nochmals ein «Buona notte» und verzog sich, so wie sie gekommen war, blitzschnell wieder in ihr Gemach zurück. Zurück blieb die Frage: Glaubt sie nun weiter an den Samichlaus oder war das der letzte Besuch bei dieser netten Italiener-Familie? Zurück blieb aber auch ein Riesenweinfleck auf meinem weissen Bischofsornat. Exakt dieser Weinfleck, der noch schwerwiegende Folgen haben sollte und der Anlass für Pfarrer Barmettler Anlass gab, mich sofort meines Amtes zu entheben und zum «Schmutzli» zu degradieren. Grausam, wie doch die ehrwürdige Geistlichkeit sein kann!

So lernt man von den Kindern

Eine weitere Episode war der Klausbesuch bei einer Familie am Bruggliweg. Nun war es so, dass die Eltern uns beim Hauseingang empfingen und uns eine Liste, man könnte auch sagen ein Sündenregister samt einem prall gefüllten Klaussäcklein übergaben. Das Sündenregister kam in das dicke schwarze Messbuch, der Säcklein in den Sack von Knecht Ruprecht. So stand ich in der warmen Stube einer jungen Familie und musterte das kleine, aufgeweckte Mädchen und den kleinen Jungen, welcher den Tränen nahe war. Ich wendete mich erst dem Mädchen zu und ermahnte dieses, wie auf dem Sündenregister explizit erwähnt, es solle doch dem kleinen Brüderchen ein Vorbild sein und nicht immer mit ihm streiten. Die Antwort der Kleinen kam postwendend: «Samichlaus», sprach sie beinahe ehrfurchtsvoll, «ich muess dr öppis sägä. Weisch, mis Mami und dr Papi tüend au immer striitä.» Peng, das sass! Da stand urplötzlich der Netschteler Samichlaus mit abgesägten Hosen in der Stube. Was sollte ich daraufhin antworten? Für einmal blieb auch ich stumm, und das kommt bekanntlich eher selten vor. Ich konnte ja nicht antworten, dass das die Eltern dürfen. Die kleine Rotznase hatte mich in Sekundenschnelle selbst in den Sack gesteckt. Irgendwie fand ich trotzdem wieder aus dieser Sackgasse heraus und zwar nicht einmal schlecht. Ich habe der Kleinen gesagt, dass die Eltern selbstverständlich auch nicht immer streiten und ihren Kindern gegenüber Vorbilder sein sollten. So habe ich während der Zeit als Netschteler Samichlaus manchmal gedacht, dass manchmal eher die Erwachsenen statt der Kinder den Samichlaus bräuchten.

Der arme Maxli im Chlaussack

An diese amüsante Geschichte erinnere ich mich so, als wäre sie erst gestern geschehen. Noch heute muss ich lachen, wenn ich das verdatterte Gesicht meines Knechts Ruprecht sehe. Es ist eine groteske Geschichte, buchstäblich ein Chlaussack voller Situationskomik! Doch die Geschichte der Reihe nach: Unser «Opfer» hiess Maxli. Maxli war der Sohn von Erna, der Schwester meines Göttis Chäpp Schmuckli. Erna hatte mich Ende November gebeten, bei ihrem Sohn Max als Samichlaus vorbeizukommen. Wir vereinbarten einen günstigen Termin. Ein eigentliches Sündenregister hätte sie gar nicht schreiben müssen, nur zu gut kannte ich Maxli, ein Lausbube im wahrsten Sinne des Wortes und vor allem nicht unbedingt der Folgsamste. Sein Sündenregister, schön säuberlich von seiner Mutter auf einem A4-Blatt festgehalten, war ellenlang. Am Schlusse der Aufzählungen hiess es ultimativ, sogar dreimal mit Ausrufezeichen versehen: «Bitte, Maxli in den Sack stecken!!!» Nichts, aber auch gar nichts Positives stand auf dieser ominösen «Anklageschrift». «Er hat schon seine guten Seiten», sagte uns Mutter Erna, eigentlich sei er ein ganz lieber Bub, doch sie möchte ihm wegen Ungehorsam ein für alle Mal einen Denkzettel verpassen, den er so schnell nicht vergesse. Schnell konstatierte ich, dass man den Samichlaus einmal mehr dazu missbrauchte, den Bösen zu spielen. Es macht manchmal den Anschein, wir Chläuse sollten ausbügeln, was Eltern nicht schafften. Ich muss es ohne Umschweife zugeben, dass mir diese Aktion mehr als zuwider war, zumal ich den Maxli selbst ganz liebhatte und er gerne in meiner Nähe war. «Warum muss der Samichlaus immer den Bösen spielen?», war meine Frage.

So stand er nun vor mir, der liebe Maxli. Ich verlas ihm, wie von Mutter Erna geheissen, wacker die Leviten und am Schluss kam‘s für den Ärmsten knüppeldick: «Los Ruprecht, stegg nä i Sagg inä!» Knecht Ruprecht machte das, was er machen musste. Mit Hilfe der beiden anderen Schmutzlis nahm er den weinenden und sich mit Händen und Füssen wehrenden Maxli am Arm und wollte ihn in den Sack stecken. Und jetzt beginnt die groteske Geschichte: Maxli in seiner Not und Pein hielt sich am Bart von Knecht Ruprecht fest, und schön langsam in Slow Motion verschwand Maxli samt Bart von Ruprecht im Sack. Nun war es so, dass die Schmutzlis jeweils ihr Gesicht mit Russ schwärzten. So hatte der liebe Maxli von der unfreiwilligen Demaskierung unseres Chef-Schmutzlis in seiner Aufregung und Angst gar nichts mitbekommen. Ich jedenfalls machte dem Spuk ein Ende und befahl, Maxli wieder aus dem Sack zu lassen, nicht ohne vorher ihm das Versprechen abzuverlangen, von jetzt an ein lieber Bub zu sein. Maxli bedankte sich mit tränenden Augen und versprach dem Samichlaus hoch und heilig, von nun an Mutter zu gehorchen.

Wenige Tage begegnete mir Maxkli auf der Strasse beim Spielen und ich fragte ihn, wie es denn mit dem Samichlaus ausgegangen sei. «Ja, das war ein ganz lieber und er hat mir viel Nüsse, Chlauschrämli und Mandarinen gebracht.» Was für eine Aussage eines kleinen Jungen, den man einen Tag zuvor in Angst und Schrecken versetzt hatte und der einen Tag später den Samichlaus als lieb bezeichnete. Im Nachhinein stellte ich mir die Frage, warum wir damals nicht seine Mutter in den Sack gesteckt hatten!