Ausland-Glarner berichten aus ihrer neuen Heimat: Finnland

Das Coronavirus beeinflusst den Alltag in der Schweiz wie kaum etwas in den letzten 50 Jahren, das Ganze ist aber ein weltweites Phänomen. Ausland-Glarner schildern auf glarus24 wie ihre neue Heimat mit der Situation umgeht, wie ihr Alltag mit Corona aussieht. Heute Antero Leuzinger aus Finnland.



Ausland-Glarner berichten aus ihrer neuen Heimat: Finnland

Finnland liegt gewöhnlich etwas abseits von allen und auch Corona hat uns 1 bis 2 Wochen später erreicht als die anderen nordischen Länder. Wenn man keine Medien folgen würde, würde man fast nichts merken: Die meisten Geschäfte und Einkaufszentren sind geöffnet geblieben, Leute gibt es auf den Strassen wie am sommerlichen Sonntagmorgen (obwohl das Wetter erst in den letzten Tagen wärmer als 10 Grad geworden ist – am letzten Donnerstag schneite es noch), der öffentliche Verkehr funktioniert prima (da es endlich wieder mal genügend Sitzplätze gibt).

Es gab aber auch bei uns den merkwürdigen Ansturm auf das Toilettenpapier und es dauert aktuell bis zu drei Wochen statt einem Tag, um Lebensmittel vom Geschäft nach Hause zu bestellen. Kinder gehen nicht in die Schule und Bibliotheken sind geschlossen, was mich persönlich am meisten ärgert. Restaurants sind auch zu, aber wir gehen sowieso nicht oft hin – aber wenn man schon Take-Away bestellen und mitnehmen darf, warum darf man nicht online bestellte Bücher von der Bibliothek abholen? Ich persönliche arbeite sowieso zumeist zuhause, jetzt ist es aber sehr üblich geworden –endlich, möchte man sagen. Wenn ich das Büro besuche, treffe ich dort kaum jemanden an. Kinder schlafen auch gern lange, aber möchten doch allmählich ihre Freunde treffen. Wenn das Wetter sich jetzt verbessert, gehen Leute öfters hinaus, aber das ist in Finnland kein Problem. Man scherzt, dass es schwierig ist, sich auf die Distanz von 1,5 Metern zu halten, da wir gewöhnt sind, mindestens 2 Meter voneinander zu bleiben. Hierzulande küsst man keine Nachbarn auf die Wangen, sondern nickt flüchtig, wenn es unbedingt mal sein muss. Aber wir sind uns ganz sicher, dass nicht alle Finnen gleich leichtfertig weiterleben können – es gibt sicher Probleme bei Familien, in denen einer sonst nachts in der Kneipe bleibt, einige Kinder machen sicher keine Hausaufgaben und Einwanderer lernen nicht mehr Finnisch, wenn sie nur unter sich bleiben. Meine Mutter starb im Dezember mit 87 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung – würde sie noch jetzt leben, wäre es sehr schwierig für uns, denn sie hätte sicher keine Freude gehabt, ihre Enkelkinder nicht treffen zu können oder nicht mehr selber einzukaufen. Am Schluss konnte sie ausserdem das Handy teilweise nicht von der Fernbedienung unterscheiden. Man versucht Besuche zu alten Leute zu verbieten, aber das ist nicht immer so einfach und auch nicht human, wenn man doch noch das Lebensende einigermassen geniessen will.

Statistisch ist die Coronakrise gar nicht so schlimm: etwa 150 Finnen sterben jedenfalls im Monat, meistens eben 80-Jährige – jetzt sind es 149 an Corona, mit Durchschnittsalter von 84 Jahren. Wäre meine Mutter eines der Opfer geworden, hätte man sicher Corona als Todesursache registriert statt Herzversagen (oder die Grippe, ohne die sie im Herbst vielleicht keine Lungenentzündung bekommen hätte). Man hat sich auf den Bedarf von 500 bis 1000 Intensivplätze vorbereitet, aber heute werden nur 63 gebraucht und der Trend ist abnehmend. Also ist die Epidemie praktisch vorbei, bevor sie wirklich begann. Bis jetzt hat man 68 500 Leute getestet – nur solche, die Fieber und andere Symptome hatten und dachten sie hätten Corona – von welchen nur 4129 positiv waren. Also waren 94% falsche Meldungen. Kaum jemand verdächtigt die üblichen Influenzas. Anders sieht es aus, wenn man der sozialen Media folgt und Glauben schenkt. Es wird heftig darüber diskutiert und täglich in den Nachrichten erklärt, ob man die Zwangsmassahmen abbauen sollte (vor allem die Schulen wieder öffnen) oder im Gegenteil noch mehr einführen sollte (etwa Maskenpflicht, weil es die Österreicher und seit Jahrzehnten die Chinesen auch so machen). Ich wundere mich nur, warum man nicht gleich mit Stäbchen essen sollte, da die Chinesen auch dabei hygienischer sind. Finnen sind traditionell liberaler gewesen, fast wie die Schweden, aber diese Zeit bringt komische politische und kulturelle Wechsel mit sich.

Ab Mitte März hat man nur angewiesen, grosse Zusammenkünfte und Besuche von Altersheimen zu meiden. Dann hat man am 16. März plötzlich alle öffentlichen Zusammenkünfte von über zehn Leuten verboten. Am nächsten Tag war der letzte Tag für Bibliothek- und Schulbesuche (vorläufig bis 13. Mai). Dann merkte man, dass Kinos noch offen waren, vielleicht ein paar Tage. Auch Grenzen gingen allmählich zu, zuletzt in Lappland gegenüber Schweden (wo es seit 1949 visa- und 1952 passfreien Verkehr gab). Ende März hat man die Restaurants geschlossen (bis 31. Mai), bloss Take-Away und einige Kantinen der Arbeitsplätze sind erlaubt. Am drastischsten war, als man die Provinz Uusimaa (um die Hauptstadt) isolierte, für zwei Wochen (es ist inzwischen schon aufgegeben worden), denn sowas gab es nicht mal zu Kriegszeiten. Über die Osterferien wachten die Polizei und Reservisten, dass niemand zu seinen Sommerhäusern in die Ferien fuhr. Da half aber das Wetter: abwechselnd Schnee und Regen. Es wäre viel dramatischer, wenn man sowas im Juni versuchen würde.

Also für meine Familie ist es etwa wie ein langes Wochenende. Kinder bekommen täglich Aufgaben von der Schule über den Computer, die 13-Jährige kümmert sich selbst darum und beim 8-Jährigen schauen wir nach, dass er seine Hausaufgaben tatsächlich auch macht. Der 6-Jährige ging früher täglich vier Stunden in den «Klub» (Vorvorschule), bleibt aber jetzt zuhause. Alle drei bekamen neue Laptops. Die 2-Jährige merkt keinen Unterschied im Alltag. und weckt uns sowieso früh auf. Paradoxerweise muss ich öfter als zuvor ins Lebensmittelgeschäft, weil wir zuvor vieles nach Hause bestellt habe. Aber jetzt ist der Service viel schlechter geworden. Wir bestellen auch oft von McDonalds. Meine Frau arbeitet zuhause, ich auch die meisten Tage. Gestern waren wir am Platz Schach zu spielen (unser Schachklub hat dort Figuren, die grösser sind als mein kleinstes Kind) und da es endlich schön sonnig und über 10 Grad warm war, versammelten sich dort auch viele Zuschauer – dennoch mehrere Meter entfernt voneinander. Man fühlte jedoch die grosse Frage in der Luft schweben: darf man das eigentlich noch?

https://thl.fi/fi/web/infektiotaudit-ja-rokotukset/ajankohtaista/ajankohtaista-koronaviruksesta-covid-19/tilannekatsaus-koronaviruksesta führt täglich offiziellen Statistiken. Heute 115 neue Fälle, insgesamt 199 im Spital (davon 63 in Intensivstation), 49 Tote HYKS ist das Universitätsspital Helsinki (auch Espoo, Vantaa und Umgebung, also die Provinz Uusimaa), wo sich die meisten Coronafälle befinden. Die Stimmung würde ich erwartend nennen – vor einigen Tagen noch ziemlich hysterisch, aber täglich mehr optimistisch. Heute haben die Kinderärzte der fünf Universitätsspitäler in der grössten Zeitung des Landes, Helsingin Sanomat, ein Bittschreiben veröffentlicht, man solle doch die Schulen wieder öffnen: in einer Stunde erwarten wir eine Meldung von der Regierung, aber sie ist wahrscheinlich noch vorsichtig, weil die Opposition und eine Regierungspartei (ohne die es keine Mehrheit gebe) alle Gelegenheiten benutzen, um die Regierung wegen Nachlässigkeit zu kritisieren. Es gibt zurzeit auch die allgegenwärtigen Skandale: unbrauchbare Masken von China über kriminelle Mittelhändler bestellt, wirtschaftliche Unterstützung an Geschäfte von Familienmitgliedern und Freunden von Ministern, tragische Todesfälle in Altersheimen, die isoliert hätten sein sollen... Das gibt es ja leider überall in der immer kleiner gewordenen Welt.

Mit vielen Grüssen an alle Leuzingers im Glarnerland und in der Welt!

Antero Leuzinger