Bettagsmandat 2023



Bettagsmandat 2023 (Archivbild: e.huber)
Bettagsmandat 2023 (Archivbild: e.huber)

Vor 175 Jahren wurde die Bundesverfassung verabschiedet, die das Fundament der modernen Schweiz bildet. Gedanken dazu zum Dank-, Buss- und Bettag:

Die Eidgenossenschaft feiert seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jeweils am 1. August ihren Nationalfeiertag und nimmt Bezug auf den 1. August 1291 als Gründungstag der Schweiz. Bei den Feierlichkeiten zum Rütlischwur fliesst auch Mythos, Pathos und Dichtung ein.

Sehr viel Konkreteres fand jedoch am 12. September 1848 statt. An diesem Tag wurde die Bundesverfassung, welche die Basis der modernen Schweiz bildete und immer noch bildet, in Kraft gesetzt. Eine 23-köpfige Kommission machte sich im Vorfeld an die Überarbeitung des Bundesvertrages und legte innert wenigen Wochen einen Vorschlag der neuen Bundesverfassung vor. Diese wurde von den Stimmberechtigten und von der Mehrheit der Kantone angenommen. Dies ebnete den Weg vom Staatenbund zum Bundesstaat und somit zu einer stabilen Demokratie mit den Grundsätzen und Grundzügen, wie wir sie noch heute kennen, schätzen und leben.

Die Schweiz besitzt seit 175 Jahren und ohne Unterbruch eine demokratische Verfassung. Eine Verfassung, die es mit ermöglicht hat, dass sich die Schweiz und unsere Gesellschaft über all die Jahre äusserst positiv und erfolgreich entwickelt hat. Unser Alltag hat sich in dieser Zeit verändert, und auch unsere Bundesverfassung kann und wird der jeweiligen Zeit und den sich ändernden Bedürfnissen laufend angepasst.

In einer immer komplexeren und stark vernetzten Welt wäre ein Stillstand definitiv ein Rückschritt. Pflegen wir also unsere staatliche Lebensgrundlage weiterhin mit viel Umsicht und basierend auf den Grundsätzen der ursprünglichen Verfassung mit den weitreichenden Rechten von Volk und Ständen – zum Wohl unserer Gesellschaft und der kommenden Generationen.

Religiöse Toleranz

Mit der ersten Bundesverfassung begann auch eine Tradition der Garantie religiöser Freiheiten. Ist Religionsfreiheit ein fremder Gast in unseren Tälern? In welche Richtung soll sich die Religionsfreiheit in der Schweiz weiterentwickeln? Bereits die Bundesverfassung von 1848 hat die politische Freiheit über die Religionsfreiheit gestellt. Immerhin hat sie die Gleichstellung der christlichen Konfessionen und Staatsbürger festgeschrieben. Das bedeutete, dass Katholiken auch in protestantischen und Protestanten auch in katholischen Kantonen die Niederlassungs- und Glaubensfreiheit sowie die politischen Rechte bekamen. Das war ein Riesenschritt, der heute in einer neuen Form fortgesetzt werden sollte. Der Ausschluss der jüdischen Minderheit von all den erwähnten Rechten war eine der grössten Schwächen der Bundesverfassung von 1848.

Heute kann man ein klares Ja sagen für jede gesunde Gemeinschaft des Glaubens. Und welche ist es? Einen Hinweis finden wir in der Bibel: Ein guter Baum trägt keine schlechten Früchte und ein schlechter Baum keine guten. So erkennt man jeden Baum an seinen Früchten (Lukas 6,43–44). Daran erkennt man eine Glaubensgemeinschaft – an ihren Früchten. Wo Glaube und Religion gute Früchte hervorbringen – Dialog, Frieden, Verständigung, ein Bewusstsein für Gemeinschaft und Unterstützung in guten und schlechten Zeiten –, da tragen sie auch zur Gesellschaftsordnung bei. Tatsächlich besteht durch die sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt unseres Landes ein grosser Vorteil und eine grosse Chance. In einer gesunden Glaubensgemeinschaft kann jeder den Frieden und das Glück finden, die nicht von dieser Welt sind (cf. Johannes 14,27). Gott hat uns die Fähigkeit verliehen, Glauben zu üben, damit wir Frieden, Freude und Erfüllung im Leben finden. Lasst uns diese Gabe nicht vergeuden!

Besinnung auf gemeinsame Werte

In der Familie zeigt sich, was langfristig eine Gemeinschaft zusammenhält: Man sollte sich miteinander vertragen, zu gemeinsam getragenen Entscheidungen gelangen und sich an Regeln halten, damit das Zusammenleben funktioniert. Wenn in einer Familie die Eltern in unterschiedliche Richtungen ziehen, dann droht sie zu zerreissen und auseinanderzubrechen.

Und so ist es auch in einem Verein, in einer Gemeinde oder im Staat: Es braucht einen Modus des Zusammenleben-Könnens der verschiedenen Mitglieder, es braucht Regeln und Gesetze, es braucht Mitsprachemöglichkeiten und gemeinsame Werte, die für alle gelten. So wird auch in der Bibel betont, wie wichtig das Gedeihen einer Gemeinde sei. Da betont der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief bildhaft: Eine Gemeinschaft ist wie ein Körper des Menschen. Er ist einer und besteht doch aus vielen Teilen, welche aber zusammengehören. Sie bilden einen unteilbaren Organismus.

Das ist auch heute noch wichtig: In unserem Staat leben viele Bürger und Bürgerinnen zusammen. Sie sind untereinander verschieden, haben unterschiedliche Gaben, Fähigkeiten und Charaktere. Alle sind jedoch aufgerufen, sich als Teil des grossen Ganzen zu verstehen. Jeder und jede ist im Bild des Leibes ein Glied. Jemand die Hand, jemand der Fuss. Alle haben unterschiedliche Funktionen, und wer bildlich die Funktion des Fusses hat, soll nicht denken: «Weil ich nicht Hand bin, gehöre ich nicht dazu.» Es können eben nicht alle dieselbe Funktion haben.

Wenn wir uns als Teil an diesem grossen Ganzen, als Teil unseres Staates sehen, dann sollten wir auch dafür sorgen, dass er funktioniert und nicht blockiert wird. Es braucht die Fähigkeit zum Kompromiss, es ist unabdingbar, dass möglichst viele am gleichen Strick ziehen.

Wünschenswert wäre, wenn Menschen vermehrt ihre Eigeninteressen ein Stück weit zurückstellen und das grosse Ganze im Auge behalten – so wie es damals die Gründervertreter der Verfassung getan haben.

Vermeiden von Verlierern und Verliererinnen

Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, in dem aus der revolutionären Bewegung von 1848 ein dauerhafter demokratischer Staat hervorging, der bis heute nicht durch eine autokratisch geprägte Regierungsform abgelöst wurde. Dies hat damit zu tun, dass die liberalen Sieger die Bundesverfassung nicht zentralistisch, sondern föderalistisch ausgestalteten, also den Kantonen nach wie vor wesentlicher Einfluss im Staat zukam. Dadurch wurde es den unterlegenen konservativen Sonderbundskantonen und ihren Repräsentanten ermöglicht, das Gesicht zu wahren. Sie durften ihre Macht im Heimatkanton halten. Die Verlierer hatten so die Chance, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, ohne ihre Identität aufgeben zu müssen. Die Konservativen wussten diese zu nutzen und integrierten sich in die neuen bundesstaatlichen Institutionen.

Dieses Vorgehen ebnete in der Schweiz das friedliche Miteinander für die Zukunft. Andere Länder in Europa wurden in den letzten 175 Jahren mehrfach von Kriegen oder Umstürzen heimgesucht. Nicht selten lag den Konflikten die Revanche für eine vormals erlittene Niederlage zu Grunde. Die moderne Schweiz baut in wundersamer Weise immer noch auf ihrer damaligen Verfassung, deren wichtige Absicht es war, keine Verlierer zu produzieren. Gerade der ausgeprägte Föderalismus und damit letztlich verbunden die Solidarität mit dem Schwächeren hat seither geholfen, grosse gesellschaftliche Herausforderungen wie die Industrialisierung oder die Massengesellschaft zu meistern. Er ist deshalb mehrfach erfolgreich erprobt.

Wird heute über die Schweiz und deren föderalistische Struktur diskutiert, stehen oft Schlagwörter wie Flickenteppich oder Kantönligeist im Vordergrund. Es wird nach einheitlichen Lösungen gerufen. Dies ist ernst zu nehmen. Durch den digitalen Wandel finden derzeit gesellschaftliche Umwälzungen statt, an deren Ende es Sieger und Verlierer zu geben droht. Der Geist des Ausgleichs, den unsere Bundesverfassung atmet, kann hier die Gefahr der Spaltung vermeiden. Einfach mehr Zentralismus ist aber keine Alternative.

Der in der Schweiz praktizierte Föderalismus besitzt nach wie vor die Leistungsfähigkeit für die Gestaltung einer offenen und zukunftsfähigen Gemeinschaft. Er ist nicht nur Effizienz, sondern fördert bürgernahe und unkomplizierte Lösungen. Vor allem aber trägt der Föderalismus wesentlich dazu bei, Verlierer zu vermeiden. So sichert er seit 175 Jahren den gesellschaftlichen Frieden in der Schweiz, für den wir sehr dankbar sind.