Blick in den Abgrund

Kennen Sie die Gelmerbahn am Grimselpass? Sie bietet pures Adrenalin-Feeling und kann mit jeder noch so extremen Chilbi-Bahn mithalten. Wir haben es ausprobiert.



Bei der Fahrt mit der Gelmerbahn hat man den Abgrund immer direkt vor Augen. (Bild: dk.)
Bei der Fahrt mit der Gelmerbahn hat man den Abgrund immer direkt vor Augen. (Bild: dk.)

«Die Gelmerbahn bietet Nervenkitzel. Ihr Trassee ist eines der kühnsten Bauwerke der Bahnpioniere. Und ihre Steigung von 106% macht sie unbestritten zur steilsten Standseilbahn Europas.» So stehts im Prospekt geschrieben, der uns im Hotel Grimsel Hospiz übergeben wird. Wir sind zwar nur zwei Tage im wunderbaren alpinen Gebiet, aber Nervenkitzel? Da wird der Widder natürlich hellhörig. Solch ein Abenteuer kann man sich doch nicht entgehen lassen, wenn man schon in der Nähe ist ...

Gedacht, getan. Wir reservieren im Internet Plätze für die einstige Werkbahn, die heute für alle Besucher offen ist. Zum Glück, denn ohne Reservierung hätten wir ewig warten müssen. Zwar ist es auch so mühsam, bis wir die Tickets in den Händen halten, aber wir können wenigstens zur vereinbarten Zeit Platz nehmen. Zuvorderst! Das heisst, mit direktem Blick in den Abgrund. Denn man fährt rückwärts rauf und vorwärts runter.

Mir ist von Anfang an etwas mulmig zumute, so ganz vorne. Doch es gibt kein Zurück mehr, die Bahn fährt los. Hinter mir sagt eine Frau: «Zum Glück kann ich mich mit den Beinen an der Zwischenwand anlehnen.» Na super, ich habe keine Wand vor mir, einzig den Sicherungsbügel, den ich mit beiden Händen umklammere. Denn es wird steiler und steiler. Den Fotoapparat habe ich schon längst meiner Tochter abgetreten – ich konzentriere mich aufs Festhalten. In den Abgrund direkt vor mir blicke ich bei den steilsten Passagen auch nicht mehr. Mein Blick geht geradeaus zum gegenüberliegenden Berghang.

Nach einer gefühlten Ewigkeit rutscht der Körper zum Glück wieder etwas nach hinten, das Trassee wird flacher, wir erreichen die Bergstation auf 1860 m ü.M. Wir haben in rund zehn Minuten rund 450 Höhenmeter zurückgelegt. «Runter komme ich ganz sicher nicht mehr mit dieser Bahn, ich gehe zu Fuss», sage ich zu meinem Mann und meiner Tochter, die im Gegensatz zu mir die Fahrt genossen haben. «Schauen wir mal», meinen die beiden lachend.

Der Nervenkitzel wird wenigstens belohnt durch eine grandiose hochalpine Bergwelt. Ich wandere rund um den Gelmersee, mein Mann und meine Tochter nehmen den steilen Aufstieg zur Gelmerhütte unter die Füsse. Bei der Wanderung entspanne ich mich wieder, bin aber immer noch überzeugt, nicht mehr mit der Bahn runter zu fahren.

Als wir dann zu dritt am späteren Nachmittag zur Bergstation zurückkehren, gebe ich mir einen Ruck – ein Widder lässt sich doch nicht unterkriegen. Ich entschliesse mich, trotzdem wieder per Bahn ins Tal zu fahren. Aber diesmal zuhinterst. Mein Mann und meine Tochter sitzen erneut zuvorderst – das hätte ich mir nicht mehr angetan. Und siehe da: In der hintersten Reihe ist es kein Problem. Die Leute vor mir versperren mir etwas den Blick direkt in den Abgrund, zudem habe ich eine Wand vor den Beinen, sodass ich die Fahrt sogar geniessen kann. Ist ja doch bequemer und knieschonender als zu Fuss ...

Unten angekommen, machen wir noch einen Abstecher zur Handeckfallbrücke, einer 70 Meter hohen und 70 Meter langen Hängebrücke. Doch die ist trotz des Schaukelns ein Klacks im Vergleich zur Gelmerbahn. Das Adrenalin-Feeling stellt sich hier weit geringer ein als bei der Fahrt am Vormittag mit der steilsten Standseilbahn Europas. So klingt unser abenteuerlicher Tag in der herrlichen Grimselwelt fast harmlos aus!