Geschichte als Kulturkampf

Am Dienstagabend feierte der Kanton Glarus im Landratssaal zusammen mit dem Historischen Verein das 175-Jahr-Jubiläum unseres Bundesstaates. Dr. Rolf Kamm, Präsident des Historischen Vereins, und Dr. Alfonso Hophan, neu Leiter des kantonalen Rechtsdienstes, fassten in einem geistigen Gewaltmarsch die Geschichte der Verfassung zusammen und zeigten, wie sehr die Geschichte von Glarus mit jener der Eidgenossenschaft verknüpft ist.



175 Jahre Bundesverfassung und Bundesstaat. Bilder von der Jubiläumsfeier im Landratsaal in Glarus (jürg huber)
175 Jahre Bundesverfassung und Bundesstaat. Bilder von der Jubiläumsfeier im Landratsaal in Glarus (jürg huber)

Wer in der Geschichte im Zug der Schlacht von Bibracte und des Rütlischwurs nach dem Schweizerischen der Schweiz fragt, kommt schon bald auf die Glarner Landsgemeinde. Sowohl Dr. Rolf Kamm wie Dr. Alfonso Hophan sind überzeugt, dass Glarus ein guter Spiegel der Schweiz ist, insbesondere wenn es um die Gründung des Bundesstaates geht. Allerdings ist die Vorgeschichte unseres heutigen Staates und seiner Verfassung viel komplexer, als es sich der Laie vorstellt. Und sie ist eine Phase, welche mindestens der vaterländische Geschichtsunterricht früherer Generationen gerne weiträumig ausblendete. 

«Revolution» löst Knoten

Nun aber feierte man in Bern am 12. September die Entstehung der 1. Demokratie in Europa und abends auch in Glarus: Landammann Benjamin Mühlemann begrüsste die Gäste und ermunterte sie zu feiern, dass die Verfassung noch heute Bestand hat. Er erinnerte an die Zeit ihrer Entstehung vor 1848, als der Kampf zwischen Schweizer Konservativen und Liberalen im Bürgerkrieg mündete und als in gerade mal 51 Tagen der neue Staat «erfunden» worden sei – «ein revolutionärer Akt im Schnellzugstempo. Im Vergleich zu heute ist das kaum mehr vorstellbar.

Glarus

Die GLARNER bekannten sich damals am deutlichsten zur neuen Verfassung, sie taten das am 13. August 1848 in einer ausserordentlichen Landsgemeinde, mit 4000 zu 1 Stimme (jener von Adelrych Stucki aus Oberurnen). Die Verfassung brachte für fast alle neue Rechte – es dauerte dann noch über 120 Jahre, bis auch die Frauen mitmachen durften. Die liberalen Werte wurden tief verankert in Verfassung und Gesetz.» Von Freiheit und Verantwortung gehe eine enorme Kraft aus. Diese Errungenschaften gelte es gemeinsam zu pflegen und festigen und die heutige Betroffenheitsdemokratie zurückzubinden. «Die Rückbesinnung auf die Gründerväter kann uns helfen, die Knoten bei Energiepolitik, Altersvorsorge oder dem Verhältnis zu Europa zu lösen.»

Wie komplex die Machtsituation vor der Gründung des Bundesstaates war, skizzierte Dr. Rolf Kamm. Er zeigte auf, wer im Laufe der Zeit im Glarnerland die Macht hatte, welche wirtschaftlichen Interessen im Spiel waren und wer die «Gewinner» und «Verlierer» waren. Von den Urkunden von 1387 bis zum zweigeteilten Staatswesen, wo eben alle Räte und Gerichte je reformiert und katholisch besetzt waren und wo jeder Landesteil eine eigene «auswärtige» Schutzmacht hatte. Dynastien wie die Familie Heer, aus welcher der Glarner Bundesrat Joachim Heer stammte, machten in der Helvetik Karriere und bestimmten das politische Leben im Kanton über mehr als hundert Jahre mit. Exportorientierte Weidewirtschaft und Fernhandel über die Walenseeroute, das Glarnerland als Rentenstaat, das sich aus den Pensionen des französischen Königs finanzierte, die aufkommenden Handelshäuser, die Schiefertische, die Heimindustrie, die aus Zürich importiert wurde, und zur Basis der Textilindustrie wurde und schliesslich der Einfluss der napoleonischen Zeit in der helvetischen Republik und der Mediation – die Machtverhältnisse und die Herrschaften wechselten bis in die Zeit der Restauration, nach 1815, wo sich auf dem politischen Feld Zentralisten/Liberale und Föderalisten/Konservative gegenüberstanden.

Wie verstehen wir den Staat?

Dr. iur. Alfonso Hophan zeichnete darauf den Übergang vom konservativen zum liberalen Staatsverständnis nach. Die staatenbündische Eidgenossenschaft – die konservative Schweiz – ging 1798 unter, es folgte die Volkssouveränität im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das war eine Revolution, denn es stellte einen Bruch mit dem Gewachsenen dar. Zwar hatte man nach 1815 in der Restauration die Idee des Staatenbundes wiederbelebt, doch das endete 1830 mit der Regeneration, welche die Ideen der Aufklärung von innen umsetzen und die gewonnene Rechtsgleichheit und die neuen Freiheiten behalten wollte. Und weil es in den damaligen Verfassungen keine Relegationsklauseln gab, man konnte sie also nicht anpassen oder ausser Verkehr setzen, kam es zu Volksaufständen wie etwa in Uster im November 1830. In Glarus spiegelt sich das etwas später im Streit um die Näfelser Fahrt, was dann in eine neue Glarner Verfassung mündete. Die liberale Verfassungsrevisionskommission der Schweiz, welche 1848 die Bundesverfassung vorbereitete, nahm sich Glarus zum Vorbild. Mit dabei in der Kommission waren Johann Jakob Blumer und Caspar Jenny. Jenny schickte über 300 Manuskriptseiten zur Revision der Schweizer Verfassung nach Glarus, das ist heute die beste Quelle für die damaligen Diskussionen. Glarus stimmte – mit einer einzigen Gegenstimme – und 101 Salutschüssen dem neuen Bundesstaat und seiner Verfassung zu. Zur 175. Feier dieses Tages wurden darauf beim Apéro mit Yvorne «Zigerbrüüt» serviert, das Beste aus beiden Schweizer Welten.