Der Delfin in der Hängematte

Unlängst ist ein Buch erschienen, das in seiner Art einzigartig ist; nicht, weil irgendwelche Sensationen samt knalligem Ausgang entwickelt sind oder ungemein Überzeichnetes vorkommt, sondern weil Bescheidenheit, Sachlichkeit, Wertschätzung und riesiges Einfühlungsvermögen zu diesem Inhalt gehören.



Buchbesprechung (Bild: p.meier)
Buchbesprechung (Bild: p.meier)

Die Rede ist von Valentina, der elfjährigen Verfasserin und ihrem achtjährigen autistischen Bruder Leonardo. Sie nennt ihn liebevoll «Rockstar». Und im Verlaufe der Lektüre wird spürbar, mit welch grosser Anteilnahme Valentina mit allem umzugehen weiss, was Leonardo und dessen Alltag zum Inhalt haben. Von sich sagt sie, dass sie liebend gerne schreibt, Schokolade schätzt und vor allem ihren Bruder richtig gerne hat. Sie äussert ihre vielfältigen Gedanken zu den Erlebnissen mit Leonardo in einer Art, die Bewunderung weckt. Sie zeigt auf, was in der Welt des autistischen Kindes abgeht. Ihre Selbstverständlichkeit und innere Reife sind bemerkenswert.

Auf der Rückseite des kleinformatigen Buches ist unter anderem festgehalten, dass sich für Valentina beim Schreiben Türen öffnen, dass sie sich dann frei fühle und mit Schreiben gar nicht mehr aufhören wolle. Es ist ihr fester Wille, dass die Lesenden – und hoffentlich werden es immer mehr – Kenntnisse über Menschen mit Autismus gewinnen, sich in diese Welt einzufühlen vermögen; spüren, wie zahlreichen Schwierigkeiten begegnet werden kann, was aufzufangen ist, was unerwartete Wendungen nimmt.

Valentina und ihr Bruder, der Rockstar», sind erfrischende Einheit. Leo lebt in seiner Welt, Valentina erwähnt, dass ihr ihre Mama alles genau erklärt habe, genau sage man dem ASS oder Autismus-Spektrum-Störung. Die Welt nehme man anders wahr als die Mehrheit der Menschen. Für Leo seien die «Farben farbiger, die Lichter heller, der Lärm lauter, der Wind stärker, die Kälte kälter, das Essen würziger, das Meer salziger, der Pulli kratziger». Alles ist intensiver.

Und man versteht, dass all diese Empfindungen – kommen sie geballt vor – viel zu viel des Guten sind. Leo muss sich zurückziehen können. Valentina weiss, dass in solchen Momenten, ein Tisch, eine Decke oder einfach ein ruhiger Ort zwingend notwendig sind. Sie ist sich sicher, dass in derartigen Momenten in Leos Welt ein «ruhigen Bach in einem pastellfarbenen Tal fliesst» und die «Schmetterlinge leise zu sanfter Musik umherfliegen». Leider wisse noch niemand, weshalb jemand ASS haben kann.

Sachte und einfühlend führt Valentina durchs Leben. Zuweilen ist das enorm dramatisch, dann wieder nachvollziehbar andersrum. Man wird in die Rolle des Zuschauenden versetzt. Es ist eine Welt, deren Inhalte offen und ehrlich aufgezeigt sind, die mannigfaltige Gefühle und – hoffentlich – ganz viel Anteilnahme zu wecken vermögen.

Geschrieben wird über Plastikgläser, Automagazine, die Hängematte im Wohnzimmer, Musik im Dunkeln, Therapien, das Miteinander, den Bären im Honigtopf. Stets sind die Kapitel kurzgehalten. So führt die Reise von einer Station zur andern. Valentina ist erfrischend ehrlich, deutlich, nichts beschönigend. Die Überschrift zum jeweiligen Kapitel stimmt ein: Traktorengeknatter, Schlechter Duft in der Luft, Forschergeist, Hochzeitsring, Flucht unter den Tisch, «We `re going to Ibiza», Die Reise ist das Ziel, Frecher Handy – Dieb, Rote Ballone in Island oder Wünsche an den Weihnachtsmann heisst es dann.

Und auf der exakt 91. Seite erwähnt Valentina: «Leonardo ist mein Bruder und ich liebe ihn. Er ist mein Freund, mein Unterhalter und mein Sonnenschein. Ich kann ihm Dinge anvertrauen, die sonst niemand weiss … Das Leben mit ihm macht Spass und ist immer etwas Besonderes.»

Natürlich haben beim Werden des Buches viele mitgeholfen. Mit dem herzlichen Dank an viele ist das ausgedrückt.

Der Haupttitel wurde erwähnt, etwas weiter unten erwähnt die Verfasserin «Mein abenteuerliches Leben mit Leonardo, meinem autistischen Bruder». Die Illustrationen stammen von Frank Baumann. Das Buch ist im Wörterseh-Verlag erschienen. Mit dem Buch wird die Beratungsstelle der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf unterstützt.