Dieses Thema verdrängte das sonst übliche Sommerthema der steigenden Gesundheitskosten, obschon ein Ansteigen der Krankenkassenprämien um 15 bis 20 Prozent vorausgesagt worden war. Um dies zu verhindern, setzen die einen auf mehr Markt und mehr Selbstverantwortung, die anderen auf Einheitskrankenkasse und Verbot von Billigkassen. Wieder andere hingegen fordern weitere von den Krankenkassen zu tragende Leistungen und grundlegende Systemänderungen. Im Ausland – vor allem in den USA, wo deren Präsident eine Krankenversicherung für alle anstrebt – gilt unser Krankenversicherungssystem jedoch als vorbildlich.
Die Medizin macht riesige Fortschritte. Viele einst tödliche Krankheiten sind nun durch Medikamente, Behandlungen, Operationsmethoden heilbar. Die Säuglingssterblichkeit sank und die Lebenserwartung stieg massiv. Andererseits suchen durch unbekannte Viren übertragene Epidemien die Menschheit heim und es treten neue Krankheiten, wie Demenz und Alzheimer auf. Zudem benötigen immer mehr den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft nicht mehr gewachsene Menschen psychologische und psychiatrische Hilfe.
Umgang mit Gesundheit – eine gesellschaftliche Herausforderung
Kranksein und vor allem Altersgebresten werden verdrängt. Gesundheit erscheint als machbar und käuflich, Lifestyle-Produkte versprechen zudem ein langes Leben bei fortdauernder Jugendlichkeit.
Das Gesundheitswesen wird zum Selbstbedienungsladen: Hüftprobleme? Das künstliche Gelenk liegt bereit; Fettleibigkeit? Dagegen gibt’s Pillen; Aussehen befriedigt nicht? Der Schönheitschirurg wird’s schon richten. Der Patient, die Patientin ist in der Gesundheitsfachsprache zum Kunden, zur Kundin geworden. Medizinische Dienstleistungen werden konsumiert, die defekten Körpermaschinen dem Arzt hingelegt; er wird’s schon flicken.
Dieses einseitige Verständnis ist mit ein Grund für unser krankendes Gesundheitswesen. Die Gesamtheit von Körper, Geist und Seele bleibt unbeachtet. Die Einsicht, dass bei einer Störung dieser Einheit der Mensch aus dem Gleichgewicht gerät und krank wird, ist nicht mehr Allgemeingut, und wird vor allem nicht mehr befolgt. Der beschleunigte soziale Wandel beeinträchtigt vor allem die psychische Gesundheit und damit die Lebensqualität. Psychische und Suchterkrankungen sind die Folge; statistisch bilden sie zusammen die häufigste und schwerste aller Krankheiten. Experten prophezeien, dass in der Schweiz künftig jede zweite Person einmal an einer psychischen Erkrankung leiden wird. Das Gesundheitswesen allein vermag diesen Trend nicht zu brechen; die Bewältigung ist eine gesellschaftliche Herausforderung.
Die ganzheitliche Wahrnehmung des Menschen ging im Machbarkeits- und Lifestylewahn unter. Viele Krankheiten liegen in einem kranken Geist oder einer kranken Seele begründet. Mediziner, die sich damit vertieft befassen werden belächelt oder zu Aussenseitern gemacht. – Andererseits geniessen Naturheilpraktiker und Heiler grossen Zulauf; Krankheit wird doch nicht ausschliesslich als nur körperliche Erscheinung wahrgenommen.
Wirkliche Gesundheit setzt gesunde Gesellschaft voraus
Eine Gesellschaft wäre selbst dann nicht wirklich gesund, wenn sie keinen Arzt bräuchte; schauten alle ihre Mitglieder nur für sich und gingen dabei die Schwachen und Unscheinbaren vergessen, krankte sie trotzdem. In der Bibel ist davon zu lesen. Regelmässig machen Propheten auf diese verdeckte Wunde aufmerksam: "Die Waise und die Witwe schreit!" Die Schwächsten, Schutz- und Wehrlosesten leiden, werden gar ausgebeutet. Niemand tritt für sie ein, bietet ihnen Hilfe. Es fehlt an Solidarität, an Gemeinschaftssinn. Auch unsere Gesellschaft scheint an einem ähnlichen Phänomen zu kranken. Jeder und jede denkt nur an sich und die eigene Familie, während ihnen die anderen gleichgültig sind. Wir sind eine Gesellschaft, die immer bunter, gemischter, unterschiedlicher wird. Es gibt nicht nur verschiedene Generationen und Schichten; bei uns wohnen immer mehr Menschen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen.
Unsere Gesellschaft darf nicht erkranken, weil sie die einen ausgrenzt, während es sich andere unbesorgt gemütlich machen können. Gerade unser christlicher Glaube lehrt, dass alle Menschen ohne Ausnahme zusammengehören, so wie wir gemeinsam die Wohnbevölkerung unseres Kantons bilden. Vor allem das frühe Christentum war es, das sich um die Armen kümmerte, ihnen Obdach und Nahrung besorgte, Wissen vermittelte, die Gleichwertigkeit der Menschen betonte.
Inzwischen hat vor allem der Staat die betreuenden und pflegenden Aufgaben sowie das Gesundheitswesen übernommen und wir dürfen in einem Sozialstaat leben, dem Sorge zu tragen ist. Die oftmals mahnenden Kirchen mögen dafür sorgen, dass wir die Schwächsten nicht vergessen, auf dass wir nicht als Gesellschaft an Wertemangel erkranken.
Das Leben – ein Aufruf
Durch all das, was wir erleben und erfahren, ruft uns das Leben an. Wir geben Antwort, wie wir es können oder lernten, und zeigen damit, wie wir Verantwortung wahrnehmen. Die einen tragen gerne Verantwortung. Sie lernten, sich tatkräftig, intelligent, zupackend und kreativ dem Leben zu stellen, sich nicht unterkriegen zu lassen und es sinnvoller ist, das Mögliche zu tun, als das Unmögliche zu beklagen. Andere drücken sich vor Verantwortung. Sie konnten wohl nicht erfahren, dass sie wichtig, gefragt, erwünscht sind. Sie lernten Wege kennen, wie sie ohne grosse Leistung zu ihrer Sache kommen.
Redet die Gesellschaft bei grossen, nicht mit technischen Mitteln lösbaren Problemen – wie beim Gesundheitswesen – von Verantwortung oder betont sie Selbstverantwortung, dann ist erhöhte Aufmerksamkeit gefordert. Ja, wir haben Verantwortung für unsere Lebensführung, um mit ihr Körper, Seele und Geist das zu geben, was gesund erhält. Sind wir aber krank, brauchen wir Zuwendung und Unterstützung, z.B. durch ärztlich-therapeutische Kunst, aber nicht nach dem Giesskannenprinzip und nicht nach Angebot und Nachfrage. Denn gesund oder gar heil werden wir kaum durch Konsumieren möglichst vieler Gesundheitsangebote. Die Bibel, auf der unsere jüdisch-christliche Kultur fusst, überliefert die Gottesaussage: „Ich, der Herr, bin dein Arzt.“ Dies kann, wie es lange Zeit war, autoritär-paternalistisch verstanden werden: ER weiss, was wir brauchen, und wir haben uns zu beugen. Oder wissen es nun die „Götter in weiss“? Gefragt aber ist anderes: ein je selbstverantwortlicher Umgang kranker und ärztlicher Personen miteinander, eine Genesungspartnerschaft.
Die biblische Aussage, „ich, der Herr“, verweist darauf, dass uns vieles entzogen ist, wir nicht über alles Kontrolle haben, manches so verläuft, als ob es anderswo bestimmt werde, nicht in menschlicher, auch nicht in ärztlicher Hand liege. Gerade wir, die wir so gerne Macher sind, so sehr ans Gesund-Machen glauben, müssen uns das immer wieder bewusst machen. Der Zuspruch, „ich bin dein Arzt“, verweist auf das menschliche Mass, das beschränkte menschliche Heilungsvermögen. Selbstverständlich ist Kranken zu helfen, auch nach den Regeln ärztlicher Kunst. Körperliche und geistige Gesundheit ist von hohem Wert für unser Wohlbefinden und für unseren seelischen, inneren Frieden. Die christliche Botschaft, „ich, der Herr, bin dein Arzt“, weist uns aber auch darauf hin, dass zu uns geschaut und für uns gesorgt wird, wenn menschliche Hilfe nur sehr begrenzt Linderung verschafft und wir an unsere Grenzen stossen.
