Der Schatten über dem Dorf – Arno Camenisch las in Glarus

Für viele Stadtglarner und weit über die Grenzen des Hauptortes hinaus ist der Bünder Schriftsteller Arno Camenisch mit seinen verschiedensten Werken zu einem Gast geworden, dem man gerne zuhört, sich von den Inhalten bereitwillig mittragen lässt. Bereits zum achten Mal weilte er in der Kulturbuchhandlung «Wortreich». Sein neuester Roman ist – das sei vorweggenommen – anders, macht vom tragischen Inhalt her stark betroffen.



Christa Pellicciotta, Geschäftsführerin der Kulturbuchhandlung bei ihrer Begrüssung
Christa Pellicciotta, Geschäftsführerin der Kulturbuchhandlung bei ihrer Begrüssung

Arno Camenischs Lesung wurde vom Gitarristen Roman Nowak in behutsamer, einfühlender und sehr passender Art musikalisch mitgetragen, niemals überzeichnend, mit gediegener Zurückhaltung untermalt. Camenisch liest mit spürbarer Leidenschaft, mit Betroffenheit und verständlicher Anteilnahme. Zuweilen klingt das leicht theatralisch auf. Der Zuhörerschaft räumt er genug Zeit ein, um alles zu erfassen: Die Vermischung von detailliertem, bildhaft stark Geschildertem, äusserst Tragisches, alltägliches dörfliches Leben, Familiengeschichten, Erlebnisse im Dorfverein, Werden und Vergehen lokaler Betriebsamkeit und Arbeit, Verweilen in der Kirche und auf dem Friedhof, innige Zuwendungen zum vierten, namentlich nicht genannten Kinde, das dem tragischen Geschehen an der Plaun Vitg gar glückhaft entkam, das Agieren und Argumentieren starker Persönlichkeiten, unerklärlicher Suizid, Auswanderungsgelüste, Jassen, Traditionelles, verstecktes Rauchen der Schulpflichtigen, Fahrkünste.

Camenisch verharrt kurz, wenn es ihm als notwendig erscheint. Er hat die grosse Summe der Geschehnisse mit enormer Dichtheit, ehrlich und direkt zusammengefasst. Er verzichtet bewusst auf vieles, was seine früheren Geschichten auszeichnete, gemeint sind das Einflechten von Mundartausdrücken, das Rumeilen von einem Schauplatz zum nächsten, die gern gehörten Munterkeiten und die kraftvollen Aussagen.

Er lässt sich auf der Wanderung durch sein Dorf, Tavanasa, begleiten, ist bereitwillig erläuternder Gastgeber, der so viel weiterzugeben hat. Er tut das in kluger Art, ohne störende Übertreibungen.

Es ist mit Beginn der Geschichte das Heimkommen. Es sind die Hinweise auf Nachbardörfer von Tavanasa, es sind die Ankunft, die Hinweise auf verschiedenste Gebäude, die Dorfkirche, den Friedhof, die Dorfjugend und deren Familien, Landschaften, Gesprächsfetzen. Gar oft schwingen Traurigkeit und verständliche Betroffenheit mit. Je länger man hinhört, umso stärker werden diese Gefühle. Man nimmt die dörflichen Traditionen wie den sonntäglichen Gang in die Messe und das anschliessende Aufsuchen des Friedhofs in sich auf, vernimmt, dass auch die drei Grabsteine der verstorbenen Kinder besucht werden. Dieses dominierende Geschehen bleibt ein Mysterium. Camenisch baut das ebenso einfühlend, intensiv wie spannungsgeladen auf. Man merkt, wie vertraut er mit dem dörflichen Geschehen ist, wie nahe ihm vieles geht. Er liest mit einer sinnrichtigen Zurückhaltung, lässt auch Heiteres zu, wenn es sich ergibt. Er ist ein guter Unterhalter, seine Direktheit kommt an.

Sein Dorf habe viele Augen, in ihm durchlebe man lange Winter, oft im Schatten und im Schnee, der so lange liegen bleibe. Er erzählt von einer Auswanderung, die lediglich zur mehrwöchigen Jassrunde gedieh. Er erweckt den unwiderruflichen Abschied, den Wegzug aus der Gemeinde, Berufliches zum Leben. Er tut dies in der charakteristisch melodiösen Camenisch-Art. Er führt zu jenen letzten Momenten, die enorm kostbar sein können.

Die Inhalte gestatten das Werden eigener Bezüge zu den tragischen Geschehnissen. Mit Camenisch weiss man, dass es keine Antworten auf viele Fragen um dieses tragische Geschehen an einem der letzten Freitage im August, anderthalb Jahre vor Camenischs Geburt anno 1978 gibt, dass höchstens Vermutungen aufkommen.

Die Orte wecken verständliche Erinnerungen zu enorm Tragischem, führen aber auch in eine neue Zeit mit Erwartungen, Hoffnungen, dem möglichen Lösen aus so grosser Betroffenheit.