Der Schweizer Knigge

Wie begrüssen Sie eine Ansammlung von Menschen, die Sie nicht kennen? «Der Schweizer Knigge» weiss Rat. Auch über andere ungeschriebene Regeln.



Benimmregeln aus heutiger Sicht: «Der Schweizer Knigge» weiss Rat. (Bild: mb)
Benimmregeln aus heutiger Sicht: «Der Schweizer Knigge» weiss Rat. (Bild: mb)

Die Tochter einer Freundin feiert am Ostersonntag ihren 30. Geburtstag. Ich gratuliere ihr per E-Mail, und sie lädt uns spontan zum Geburtstagsfest am Nachmittag ein. Sie würde sich freuen, wenn wir hereinschneiten. Wir seien herzlich eingeladen, schreibt sie.

Das ist sehr lieb von ihr, und wir beschliessen, der Einladung Folge zu leisten. Nur, wo nehmen wir am Ostersonntag ein Geschenk her? «Kein Problem», meint mein Mann, «in einem Tankstellenshop können wir Blumen kaufen.» Die Tankstellenshops, an denen wir vorbeifahren, sind dann allerdings geschlossen. Am Bahnhof Näfels aber werden wir fündig, kaufen Blumen und einen Osterhasen. Verlegenheitsgeschenke, ich weiss. Aber so spontan geht es nicht anders.

Die Tochter der Freundin wohnt im Kanton Schwyz in einem Mehrfamilienhaus. Vor der Wohnungstüre stapeln sich die Schuhe. Oha, alleine sind wir nicht. Das Geburtstagskind begrüsst uns herzlich an der Tür. Sie freut sich über unser Kommen, und wir wechseln ein paar Worte.

Dann geht es hinein in die kleine Wohnung, die mit Menschen überfüllt ist. Wir kennen fast niemanden. Ganz hinten entdecke ich unsere Freundin, also die Mutter des Geburtstagskindes. Sie winkt uns zu. Und wie gelange ich nun zu ihr? Begrüsse ich alle mit Handschlag und stelle mich vor, wie das eigentlich in der Schweiz üblich ist? Ich bin überfordert. Den ersten Gästen im Gang sage ich einzeln Grüezi (samt Handschlag). Dann biege ich nach rechts ab in Richtung Freundin und sage nur noch kollektiv «Grüezi mitenand». Bei der Freundin ist nämlich soeben ein Platz frei geworden, und ich setze mich neben ihr aufs Sofa.

Etwas später kommt noch die Freundin der Freundin, die ich auch kenne, und irgendwann schafft es auch mein Mann aufs Sofa. Wir führen angeregte Gespräche und beobachten interessiert die vielen Gäste – zur Hauptsache natürlich jünger als wir. Ich finde heraus, dass einer der jungen Männer im Glarnerland aufgewachsen ist und in Glarus gemeinsam mit dem Geburtstagskind sowie unserer Tochter die Schule besucht hat. Schön, ihn wieder einmal zu sehen. Ich hätte ihn nicht mehr erkannt.

Unser Abschied erfolgt wieder mehrheitlich kollektiv. Ich frage mich allerdings, ob dieses Verhalten – vor allem auch bei der Begrüssung – korrekt ist. Es lässt mir keine Ruhe. Zu Hause konsultiere ich den Ratgeber «Der Schweizer Knigge. Was gilt heute?». Grundsätzlich werde in der Schweiz mit Handschlag gegrüsst, heisst es da. Doch: «Bei Veranstaltungen mit privatem Charakter hat sich die Gewohnheit gehalten, dass die Frau entscheidet, ob mit Handschlag begrüsst wird oder nicht.» Die Frau dürfe darüber befinden, wie dieser Begrüssungsteil vonstattengehe, und könne dabei lediglich ein Grusswort vorbringen. Ob dies allerdings einzeln erfolgen muss oder kollektiv geschehen darf, steht nicht explizit.

Trotzdem bin ich erleichtert. Ich war nicht unhöflich, wie ich befürchtet hatte. Dem «Schweizer Knigge» sei Dank. Dieser enthält übrigens eine Vielzahl an guten Ratschlägen. Keine strikten Vorgaben, sondern ungeschriebene Regeln, über die es einen Konsens gibt. Wer darüber die Nase rümpft, dem hält der Autor Christoph Stokar entgegen: «Gerade in Zeiten der Individualisierung besteht ein Bedürfnis, zu wissen, wie es eigentlich korrekt ginge. Denn Umgangsformen geben Sicherheit, wie Begegnungen zwischen Menschen positiv zu gestalten sind. Sie vereinfachen das Miteinander, beugen Missverständnissen vor, können Karrieren begründen oder gefährden. (...) Das Dasein ist jedenfalls tiefer von Konventionen durchdrungen, als man das wahrhaben und zugeben möchte.»

Ich behalte das Buch in meiner Nähe und werde mir den Inhalt häppchenweise zu Gemüte führen. Schaden kann es nicht. Aber nützen. Oder was meinen Sie?