Der tiefere Sinn

oder weshalb der westliche Mensch stets unglücklich sein wird.


Es ist nun zwar schon ein paar Jahre her, seit ich meinen Geist in einer öffentlichen Bildungsinstitution formen durfte, doch gewisse Vorkommnisse aus der damaligen Zeit scheinen mich auch in den heutigen Tagen noch auf Schritt und Tritt zu verfolgen…

Eine Lieblingsfrage meiner damaligen Dozentinnen und Dozenten war: „Was für ein Sinn steckt hinter ihren Gedanken?“ oder auch „Wo ist der Sinn dahinter?“. Äusserst beliebt war indes auch der Klassiker: „Macht das Sinn?“. Nun, während diese Unklarheiten verhältnismässig einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden konnten, entfachten diese Fragen im Nachhinein jeweils regelrechte Flächenfeuer von weiteren Fragen, die ihrer Art nach eher im philosophischen Bereich angesiedelt waren und demnach auch wesentlich komplexer zu beantworten waren:

Was ist das eigentlich, „der Sinn“? Und wer bestimmt, ob etwas Sinn macht oder nicht? Und überhaupt: Muss eigentlich immer alles einen Sinn ergeben?

Nebst den oben erwähnten Fragen verdanke ich meiner Ausbildung aber auch das Wissen um die Tatsache, dass der westliche Mensch seineszeichens stets krampfhaft bestrebt ist, hinter allem und jedem einen tieferen Sinn zu finden. Dies wurde mir spätestens zu jenem Zeitpunkt bildhaft vor Augen geführt, als uns ein Dozent einen Text zu lesen gab, welcher erstens mit Fremdwörtern und Fachbegriffen übersät und zweitens aus wild zusammengewürfelten Textfragmenten zusammengesetzt war – was wir damals aber nicht wussten.

Unsere Aufgabe bestand nun darin, den Text zu lesen und in der Folge eine kleine Zusammenfassung zu schreiben, damit wir in der darauffolgenden Seminarstunde darüber diskutieren konnten. Glauben Sie mir: Jeder einzelne Student und jede einzelne Studentin fand in dem Wirrwarr irgendeinen Sinn! Unglaublich, wenn man bedenkt, dass unser Professor Texte aus Kochbüchern, Fachzeitschriften, Boulevardblättern und sogar der Bibel collagiert hatte!

Ist die Sinn-Frage wirklich derart elementar, dass wir uns diesbezüglich schlaflose Nächte aufzwingen müssen? Oder anders gefragt: Wenn wir alle permanent auf der Suche nach einem tieferen Sinn sind, macht denn unser Leben, unsere Welt oder unsere Gesellschaft einen Sinn?

Macht es Sinn, wenn wir im Winter Tomaten über tausende von Kilometern in die Schweiz importieren, obschon diese im Sommer quasi direkt vor unserer Haustür wachsen würden? Macht es Sinn, dass überdimensional grosse Offroad-Fahrzeuge im Stadtverkehr eingesetzt werden obschon es Artgenossen mit günstigeren Konsequenzen für das Klima geben würde? Macht es Sinn, dass gewisse Länder und Präsidenten versuchen einen Krieg zu legitimieren? Macht ein Krieg überhaupt Sinn?

Ich stelle fest, dass bei wirklich wichtigen Fragen der heutigen Zeit die Sinn-Frage weitgehend in den Hintergrund gerückt wird. Stattdessen werden unzählige Expertisen und Studien in Auftrag gegeben, die sich mit – meines Erachtens – nicht wirklich prioritär zu behandelnden Themen auseinandersetzen: Man weiss, dass die Ohren eines Menschen ein Leben lang wachsen. Man weiss, dass Elefanten die einzigen Landtiere sind, die nicht aus eigener Kraft springen können. Man weiss, dass man rund drei Tage lang am Stück schreien müsste, um gleichviel Energie zu erzeugen, wie benötigt wird, um eine Tasse Kaffee zu erwärmen. Faszinierend, nicht?

Aber nützt uns das etwas? Nützt uns das etwas als Menschen des 21. Jahrhunderts, die normalerweise selten in das Vergnügen der Bekanntschaft eines Elefanten kommen und die den Kaffee in der Regel bequemlicherweise mit der dafür vorgesehenen Maschine zubereiten?

Ich für meinen Teil habe längst damit abgeschlossen, überall und stets einen Sinn zu suchen. Wenn ich mir ein klassisches Werk anhöre, lasse ich die Musik wirken. Wenn ich ein Buch lese, lasse ich die Worte auf mich wirken und mühe mich nicht mit unzähligen Gedanken ab, was sich der Komponist oder Autor bei dessen Entstehung wohl gedacht haben könnte. Denn was bringt’s? Ich kann mich schliesslich nicht beim Urheber erkundigen und ihn fragen, was ihn damals zum Schaffen inspiriert hat. Genauso verhält es sich bei der Malerei, der dreidimensionalen Kunst und dem ganzen Rest der richtungsverwandten Themenbereiche.

Ich frage mich nicht mehr, wieso der Kaffee heute bitterer ist als gestern. Ich frage mich nicht mehr, wieso die Luft heute klarer ist als gestern. Ich frage mich mehr, wieso der Elefant nicht aus eigener Kraft in die Luft springen kann. Kurzum: Ich frage mich nicht mehr nach dem Sinn einer Begebenheit, sondern lasse diese auf mich wirken und lasse das Ding Ding sein.

Und genau das ist das Geheimnis – oder zumindest eines der Geheimnisse – meiner Zufrieden- und Gelassenheit, die einem Grossteil der westlichen Menschheit wohl leider für immer verborgen bleiben wird...

Sinä!