Die Glarner Gemeindereform feiert den 10. Geburtstag

Am 1. Januar 2011 wurde die noch heute radikalste Gemeindereform der Schweiz umgesetzt. Die 25 Glarner Gemeinden wurden zu den drei Einheitsgemeinden Glarus Nord, Glarus und Glarus Süd fusioniert. Vorausgegangen war ein historischer Entscheid der Landsgemeinde 2006.



Rolf Widmer, CVP, Departement Finanzen und Gesundheit.:
Rolf Widmer, CVP, Departement Finanzen und Gesundheit.:

Es war viel Vorarbeit geleistet worden, nachdem die Erkenntnis mehrheitlich gereift war, dass der Kanton Glarus seine Strukturen vereinfachen und modernisieren sollte. Schliesslich schlug der Regierungsrat den Glarnerinnen und Glarnern ein Zehnermodell vor. Nur noch zehn Einheitsgemeinden, das war angesichts der mehreren Dutzend bestehender Schul- und politischen Gemeinden wenige Jahre zuvor ein mutiger Entscheid. Dachte sich zumindest der Regierungsrat. Niemand hätte damit gerechnet, dass die Landsgemeinde im Mai 2006 gleich noch einen draufsetzen würde. Nach emotionalen Reden, einigen neuen Vorschlägen für die richtige Anzahl Kommunen und viel Eigendynamik, beschloss die Landsgemeinde mit denkbar knappem Mehr, dass es künftig auch drei Gemeinden täten. Gegen diesen Entscheid gingen Beschwerden ein, sodass sich die Glarnerinnen und Glarner im November nochmals zu einer ausserordentlichen Landsgemeinde trafen. Aber weil die Gegner damit indirekt auch die Institution Landsgemeinde angriffen, und solches vom Volk nicht goutiert wird, wurde der Entscheid vom Frühling deutlich bestätigt. 

Happy Birthday und ein frohes neues Jahr den 3 Glarner Gemeinden

Nach erneut viel Grundlagenarbeit starteten die drei Gemeinden Glarus Süd, Glarus und Glarus Nord am 1. Januar 2011 in ihre neuere Geschichte. Zum runden Geburtstag haben wir die Glarner Regierungsräte um ihre persönliche Einschätzung gebeten. 

Marianne Lienhard, Frau Landammann, SVP, Departement Volkswirtschaft und Inneres:

Erinnerung an den Entscheid?

Noch benommen von der Dynamik des Landsgemeindeentscheids gab es für mich am Tag danach fast nur Fragen. Doch rasch nahmen die positiven Gedanken überhand. Wir wurden vor die einzigartige Aufgabe gestellt, unsere Strukturen von Kanton und Gemeinden neu zu überdenken. Ich habe mich aktiv an der Umsetzung beteiligt. Die Mitgestaltung an diesem Prozess wird für mich als einmalige Gelegenheit in Erinnerung bleiben.

Was hat sich verändert?

Positiv: Stimmbürgerinnen und Stimmbürger begannen sich über die alten Strukturen hinweg zu formieren. Beispielsweise in Glarus Süd vereinigten sich Interessenvertretungen bei der Schulstandortfrage und bei der Gewässerraumausscheidung. Mit dieser Stärke verschafften sie sich das für ihr Anliegen notwendige politische Gehör. Durch solche Initiativen begannen die alten Strukturen zu weichen. Negativ: Leider präsentiert sich bei sämtlichen drei Gemeinden in der Regel eine mässige Teilnahme an den Gemeindeversammlungen. Die Frage, ob es sich dabei um einen generellen Trend handelt oder ob ein Zusammenhang zur Gemeindestruktur besteht, ist noch nicht beantwortet.

Wünsche für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass die Gemeinden ihre Autonomie in der heutigen Ausprägung behalten können. Das bedingt nebst einer schlagkräftigen Exekutive auch eine kompetente Verwaltung. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind aufgerufen, sich aktiv an der Weiterentwicklung ihrer Gemeinde zu beteiligen.

Benjamin Mühlemann, Landesstatthalter, FDP, Departement Bildung und Kultur:

Erinnerung an den Entscheid?

Besonders in Erinnerung sind mir die vielen staunenden Gesichter, die unmittelbar nach dem unerwarteten Entscheid auf dem Ring auszumachen waren. Auch ich selbst war verblüfft und brauchte eine Weile, um zu begreifen, was sich gerade abgespielt hatte.

Was hat sich verändert?

Insgesamt ist vieles professioneller und effizienter geworden, einiges in den Dörfern, aber auch komplizierter und unpersönlicher.

Wünsche für die Zukunft?

Eine verbesserte politische Partizipation.

Rolf Widmer, CVP, Departement Finanzen und Gesundheit:

Erinnerung an den Entscheid?

Ich kann mich noch an den Landsgemeindeentscheid erinnern. Hinter mir sassen gestandene Politprofis, die taktisch abstimmten. Sie gingen aufs Ganze und riefen «jetzt tönd mir nuch ä chlei heizä» bis bei der Endabstimmung ihre Heiterkeit abrupt endete. Die Geburt der Gemeinden selber blieb mir nicht in besonderer Erinnerung, das war für mich mehr ein technischer Akt.

Was hat sich verändert?

Man denkt und handelt gesamtheitlicher, die Nähe zur Bevölkerung ist dafür etwas verloren gegangen.

Wünsche für die Zukunft?

Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut. Die Reform ist ein Jahrhundertprojekt und Kraftakt sondergleichen. Sehr vieles läuft gut und an anderen Sachen muss man noch arbeiten. Das ist normal. Ich wünsche mir Geduld in diesem langjährigen Prozess und viele gute Leute mit Engagement und Elan, die sich zum Ziel setzen, das Wohl der Bevölkerung zu mehren.

Andrea Bettiga, FDP, Departement Sicherheit und Justiz:

Erinnerung an den Entscheid?

Ausschlaggebend für die historische Fusion waren die finanziellen Probleme einzelner Gemeinden. Dennoch waren die Traditionalisten schwer zu überzeugen, diesen Weg Richtung Reform einzuschlagen. Daher war dieser Schritt einer der mutigsten der direkten Demokratie. So war der erste Januar 2011 für mich erfüllt mit Stolz, denn er war ein starkes Symbol dafür, dass der Kanton Glarus immer wieder den Willen zeigt, sich den Veränderungen der Zeit zu stellen.

Was hat sich verändert?

Wenn wir die finanziellen Situationen der drei Gemeinden ansehen, ist der eingeschlagene Weg der richtige gewesen. Auch konnte die Professionalität durch den erhöhten Stellenetat gesteigert werden. Gerade dies wird im (überbordenden) rechtlichen Umfeld zunehmend wichtiger. Leider ist die Distanz von der Verwaltung zur Bürgerin bzw. Bürger eher grösser geworden. Das zeigt auch die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen. Darauf muss unbedingt ein Augenmerk gelegt werden.

Wünsche für die Zukunft?

3 starke Gemeinden – ein wettbewerbsfähiger Kanton. Das soll unser Motto bleiben! So sollen innovative Modelle weiterentwickelt werden, um sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

Kaspar Becker, BDP, Departement Bau und Umwelt:

Erinnerung an den Entscheid?

Der Tag begann für mich wie jede Landsgemeinde seit 1981 – Antreten am Morgen früh mit der Harmoniemusik Glarus, Ständchen und Einmarsch – danach allerdings ging es für einmal auf den Ring anstatt in einen «Moscht». Die Stimmung und dann die Dynamik war einzigartig, einmalig. Mir war schnell bewusst, dass die Landsgemeinde hier etwas historisches entschieden hat. Aber auch sehr schnell kamen Zweifel auf, ob wir hier nicht vielleicht etwas gar forsch waren. Ich bin aber froh, dass wir den Entscheid auch an der ausserordentlichen Landsgemeinde bestätigten und es durchgezogen haben. Auch wenn heute noch ab und zu Zweifel aufkommen, ob es nicht vielleicht doch etwas gar forsch war.

Was hat sich verändert?

Ich bin überzeugt, dass wir Einheiten geschaffen haben, welche eine gute «Grösse» für die Zukunft haben. Diese Grösse erlaubt es den Gemeindeverwaltungen, ihre Arbeit effizienter und professioneller zu erledigen. Dazu sind wir sicher auf einem erfolgsversprechenden Weg. Die befürchtete «Entfremdung» der Gemeinden gegenüber der Bevölkerung nehme ich so auch nicht wahr und nicht zuletzt konnte das aktive Vereinsleben in den Dörfern aufrechterhalten werden. Schade finde ich nach wie vor, dass zwei der drei Gemeindenamen etwas gar stark an Autobahnausfahrten erinnern.

Wünsche für die nächsten 10 Jahre?

Die Basis ist gelegt, die «Geburtswehen» sollten überstanden sein. Jetzt gilt es, diese Ausgangslage zu nutzen und die zahlreichen guten Ansätze konsequent weiter zu verbessern, auf dass wir in 10 Jahren keine Zweifel mehr ob dem forschen Tempo haben müssen.

Hansjörg Dürst, Ratsschreiber:

Erinnerung an den Entscheid?

Ich war mittendrin im Landsgemeindering als Ratsschreiber auf der Bühne. Wir wussten, dass dies ein höchst emotionales und umstrittenes Thema war und haben uns entsprechend auf mögliche Anträge vorbereitet. Nach dreimaligen Ausmehren gab Landammann Röbi Marti bekannt, dass die Landsgemeinde den Zusammenschluss der noch 25 Einheitsgemeinden zu drei Gemeinden beschlossen hat. Es herrschte anschliessend eine ziemliche Aufregung im Ring, die Gegner der Fusion wären höchst verblüfft; ein Bürger versuchte, einen Rückkommensantrag zu stellen, was wir ablehnten. Nach der Landsgemeinde 2006 wurde der Entscheid zuerst auf juristischem Weg bis zum Bundesgericht angefochten. Dieses bestätigte jedoch den Entscheid der Landsgemeinde. Es wurde aber nochmals spannend, da die Gegner der Fusion nicht aufgaben und die Einberufung einer ausserordentlichen Landsgemeinde erzwangen. Diese bestätigte den Entscheid von 2006 klar. Der Slogan «Ds Wort gilt» war wegleitend für diesen Entscheid.

Was hat sich verändert?

Positiv hat sich verändert, dass die kleinräumigen und komplizierten Strukturen mit über 80 verschiedenen Gemeinwesen radikal vereinfacht wurden. Auch wurden viele Zweckverbände hinfällig. Der Entscheid war auch Treiber für weitergehende Strukturbereinigungen, z. B. mit der Kantonalisierung des Sozial- und Vormundschaftswesens. Auf Stufe Gemeinden führte dies zu einer Professionalisierung der Gemeindeverwaltungen, aber auch der Gemeinderäte, da nun mit weniger Voll- oder Teilpensen und nicht mehr mit vielen Nebenämtern in diesen Funktionen gearbeitet werden kann. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war, dass im Nachgang die Steuerbelastung im Kanton markant gesenkt werden konnte. Kanton und Gemeinden verfügen heute über eine sehr gesunde Finanzlage. Man vergisst heute etwas, dass sich Kanton und Gemeinden nach der Jahrtausendwende in einer finanziell schwierigen Situation befanden. Negativ ist zu vermerken, dass die Bürgernähe durch die grösseren Strukturen etwas verlorengegangen ist und damit auch die Identifikation mit der Gemeinde. Zudem ist die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen eher rückläufig. Schade ist auch, dass das Experiment mit einem Gemeindeparlament in Glarus Nord schon nach vier Jahren aufgegeben wurde. Eine Verbesserung der politischen Partizipation und Bürgerbeteiligung sind Baustellen für die Zukunft.

Wünsche für die Zukunft?

Die Gemeindestrukturreform ist ein Generationenprojekt, welches in den nächsten zehn Jahren noch zu konsolidieren ist. Es müssen noch Feinjustierungen am Führungsmodell in den Gemeinden vorgenommen werden, die politische Partizipation ist zu verbessern. Der Wunsch ist einfach, dass man weiterhin offen ist und das Erfolgsmodell Gemeindestrukturreform nachhaltig sichert.