Die Vernunft und das Feigenblatt


„Nackte Vernunft trägt das Feigenblatt dort wo das Herz schlägt.

“Ein Zitat, dass mich immer wieder zum nachdenken bringt.

Vernunft. Wenn ich mir dieses Wort ansehe, es ausspreche, fühlt es sich frostig, nüchtern und schwer an.Was ist Vernunft? Alle benutzen wir diesen Begriff regelmässig, ohne uns wirklich bewusst zu sein, was er bedeutet.

Jemand erzählt Freunden von der Absicht seinen Job zu wechseln, sein Leben zu ändern. Und postwendend wird er mit einem Flut von Gründen übergossen, dies nicht zu wagen.„Sei doch vernünftig!“ bekommt er empört zu hören „was willst du dich in Unsicherheiten stürzen.“ Nur schon davon zu sprechen, eines Tages sein Leben auf den Kopf zu stellen, seine Träume zu verwirklichen, löst vernunftbedingtes Entsetzen aus.

Ist es wirklich die Vernunft, die aus uns spricht? Ist es nicht einfach Angst vor Neuem? Angst davor, sichere Lebensumstände zu verlassen und somit neue Wege zu beschreiten. Unsicheres Terrain. Oder der unausgesprochene, leise Neid, gegenüber Menschen, die mutiger sind als wir.

Vernunft, per Definition, die Fähigkeit des menschlichen Geistes, universelle Zusammenhänge in der Welt und ihre Bedeutung zu erkennen und danach zu handeln – insbesondere auch im Hinblick auf die eigene Lebenssituation. Die Deutung klingt viel ansprechender, als das Wort an sich.

Wir vergewaltigen einen Begriff zu unseren Gunsten. Bei allen möglichen Situationen schieben wir ihn vor, um etwas zu verhindern oder zu entschuldigen. Missbrauchen ihn, um fehlende Entschlossenheit zu verdecken. Verschanzen uns hinter ihm, weil es soviel einfacher ist, sein Leben weiterzuleben wie es immer war – um, mitunter fragliche, Sicherheit zu bewahren.

„Unser Herz mit dem Feigenblatt bedeckt halten.“Passt ihn unsere geregelte, organisierte Welt. Stellt euch vor das Feigenblatt würde verwelken, herunterfallen und das nackte Herz entblössen. Da könnten unvernünftige Gefühle und Träume zum Vorschein kommen. Was doch lieber zu vermeiden wäre. Da würde am Ende noch jeder seine Visionen wahr machen, ohne Rücksicht auf Konventionen und Folgen.

Dabei tragen wir alle in unseren Herzen diese versteckten, unvernünftigen Wünsche. Was würde passieren, wenn diese auf einmal sichtbar würden? Sich zum allgemeinen Entsetzen verwirklichen würden?

Der Bankdirektor wird zum Seemann, die Hausfrau vernachlässigt den Haushalt und schreibt sich an der Uni ein, der Professor lässt alles liegen und fährt zum Schafe hüten nach Irland, der Sohn gibt sein Studium auf und will Schauspieler werden, der Grossvater packt seine Sachen und trampt Richtung Osten, die fünfundachtzigjährige Grossmutter beschliesst ihre Sandkastenliebe zu heiraten.

Na und?

Das wäre so richtig schön befreiend. Es gäbe sofort eine Menge weniger unzufriedene und grisgrämige Leute. Viele würden plötzlich „abweichend“ leben.

Die Allgemeinheit empfände es gar nicht mehr als so unvernünftig. Denn die sogenannt Vernünftigen würden immer weniger und der Mensch ist bekanntlich so geschaffen, dass prompt die anderen nicht mehr „normal“ wären.

Und somit könnte das arme, missbrauchte Wort wieder zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückfinden. Welche für mich den Sinn hat so zu leben, wie es für mich stimmt, jedoch immer auf eine Weise, die anderen Menschen möglichst keinen Schaden zufügt.