Ein schmaler Grat

Eigentlich wäre alles gut. Und dann kommt ein Moment, der vieles verändert. Der nachhallt und Bilder hinterlässt, die es zu verarbeiten gilt.



Wegen des dichten Nebels konnte der Helikopter nicht fliegen. (Bild Madeleine Kuhn-Baer)
Wegen des dichten Nebels konnte der Helikopter nicht fliegen. (Bild Madeleine Kuhn-Baer)

Mein Mann und ich haben vor Kurzem einen solchen Moment erlebt. Wir waren für einen Tag am Grimselpass im Herzen der Alpen. Wir lieben diese Gegend, sie gibt uns Kraft. Beim Hospiz besichtigen wir die imposante Baustelle, wo eine zweite Staumauer vor der alten gebaut wird. Unglaublich, diese Dimensionen!

Innerlich gestärkt und fröhlich fahren wir am späteren Nachmittag zurück über den Furkapass nach Andermatt und weiter Richtung Klausen. «Wollen wir unten durchfahren, weil wir schon am Morgen über den Klausenpass gekommen sind?», frage ich – eventuell schon in leiser Vorahnung. «Nein, weshalb auch, wir fahren doch wieder über den Klausen zurück», antwortet mein Mann.

Gesagt, getan. Je höher wir kommen, desto dichter wird der Nebel. Eine dicke Suppe legt sich um die Gegend beim neuen Hotel Klausenpass. Kurz danach halten uns zwei Männer auf. Ein dritter liegt quer auf der Strasse. Regungslos. Wie sich zeigt, ist es ein Velofahrer, der mit einem Kollegen eine Tour unternommen hat. Kurz vorher seien sie noch im Hotel Klausenpass eingekehrt, sagt der Kollege. Bei der Weiterfahrt ist der Velofahrer einfach umgekippt. Ein hinter ihm folgender Töfffahrer hat alles mitangesehen. Vermutlich Herzversagen.

Polizei und Ambulanz sind alarmiert. Tragisch, dass der Helikopter bei diesem Nebel nicht fliegen kann. Er stünde in Erstfeld bereit, wir haben ihn beim Vorbeifahren gesehen. Mein Mann und der Töfffahrer wechseln sich ab mit der Herzmassage. Der Kollege des Verunfallten ist geschockt, zittert, hat Tränen in den Augen, dreht sich ab, schaut dann wieder zu, dreht sich wieder ab. Bald stösst eine Werksanitäterin hinzu, die sich zufällig auch am Klausen befindet. Noch immer versuchen sie, den Mann zu reanimieren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt ein Urner Polizeiauto mit zwei Polizisten und einer Rega-Ärztin. Diese versucht alles, intubiert den Mann, legt Infusionen, benützt den Defibrillator, während die Polizisten die Herzmassage fortsetzen. In der Zwischenzeit ist dieser Abschnitt der Klausenpassstrasse für Autos gesperrt. Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit hört man die Sirene der Ambulanz aus Altdorf. Immer noch wird um das Leben des Mannes gekämpft.

Dann, plötzlich, die Worte der Ärztin: «Es bringt nichts mehr, der Mann ist tot.» Beklemmende Stille tritt ein. Alle sind betroffen und versuchen, irgendwie mit der Situation klarzukommen. Langsam werden die medizinischen Vorrichtungen entfernt. Der tote Velofahrer wird zum Strassenrand getragen und mit einem weissen Leintuch bedeckt. Die Autos können wieder passieren.

Die Ärztin kümmert sich nun um den Kollegen des Verunfallten. Auch uns bietet sie ein Gespräch an samt Option, ihr allenfalls später noch auf die Rega-Basis zu telefonieren.

Nachdem die Polizei die Daten meines Mannes als Ersthelfer aufgenommen hat, fahren wir weiter. Wir versuchen, das Ganze irgendwie einzuordnen. Meinem Mann gelingt dies als ausgebildetem Militär-Rettungsflughelfer besser. Mich verfolgen die Bilder noch länger. «Es braucht einfach Zeit. Zeit ist ganz wichtig», schreibt eine Freundin. Dem Verunfallten wurde die Zeit genommen. Und uns wird wieder einmal bewusst, wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist.