Ennenda–Mailand–Ennenda – Tagebuch einer schon besonderen Reise

Als sich Johannes und Christina Marti-Jenny im Jahre 1843 auf ihre Hochzeitsreise begaben und darüber ein Tagebuch mit einem reichhaltigen und kostbaren Inhalt verfassten, hätten sie kaum gedacht, dass exakt 173 Jahre später alles bearbeitet, säuberlich geordnet und sorgfältigst recherchiert am Ursprungsort der Reise erscheinen würde. Das Zustandekommen dieser Dokumentation haben Theodor Marty und Reto D. Jenny in der Serie «Edition Comptoir-Blätter» realisiert – nach spürbar aufwendiger Arbeit. Das Werk umfasst stolze 135 Seiten. Vorgestellt wurde es anlässlich der Vernissage an einem geschichtsträchtigen Ort – dem Comptoir an der Fabrikstrasse 5 in Ennenda.



dem gemeinsamen Verwandten der Verfasser. (Bilder: p.meier) Das Brautpaar Johannes und Christina Marti-Jenny auf der Titelseite. Theodor Marty (links) und Reto D. Jenny. Mit Musikalischem warteten Marlies Stäheli (Sopran)
dem gemeinsamen Verwandten der Verfasser. (Bilder: p.meier) Das Brautpaar Johannes und Christina Marti-Jenny auf der Titelseite. Theodor Marty (links) und Reto D. Jenny. Mit Musikalischem warteten Marlies Stäheli (Sopran)

Und dass sich grad am Muttertag so viel im Comptoir, einem stimmigen Ort mit textilgeschichtlich sehr beeindruckenden Hintergrund, einfanden, bewegte die Gastgeber Ruth und Köbi Kobelt und die Autoren der als Doppelnummer konzipierten «Edition Comptoir-Blätter», Theodor Marty und Reto D. Jenny, spürbar. Nach der Präsentation der Ausgabe, musikalisch von Marlies Stäheli und Ruth Kobelt (Gesang, Gitarre) und Kontrabassist Köbi Kobelt, wurde man in den hellen, grosszügig eingerichteten Räumlichkeiten der «Baumwollblüte» im Erdgeschoss gar aufmerksam verwöhnt. Die Verfasser berichteten von jenem Zufall, der sie zusammenführte. Es waren das unscheinbare Tagebuch und ein im Comptoir aufgehängtes Porträt, das die Textautoren, Jenny aus dem bündnerischen Sent und Marty aus Winterthur, zusammenführte. Es ist der in Öl verewigte Fridolin Jenny, ein gemeinsamer Vorfahre der Autoren. Reto D. Jenny dankte vielen, die beim Zustandekommen einfühlend und sachkundig mitgeholfen haben. Er wies auf die Ausstellung im Korridor des Obergeschosses hin. Originale zum Buch sind in grossflächigen Vitrinen noch über viele Wochen hinweg einsehbar. Es handelt sich um bearbeitete Texte, Kartenausschnitte, Illustrationen, Links zu anderen zeitgenössischen Gegebenheiten, Reiseetappen und anderes. Theodor Marty sprach zum Tagebuch, das er einst erhalten hatte und ab 2013, wenige Jahre nach seiner Pensionierung, zur Bearbeitung und Herausgabe der zahlreichen, interessanten Unterlagen führte. Drei Jahre lang dauerte dieses Aufarbeiten, Zusammentragen, Gliedern und Publizieren dieser 17 Etappen, die über rund 750 Kilometer führten und mit Kutsche, Ruderboot, Dampfschiff und Bahn ab Monza bis Mailand bewältigt wurden. Der Brautvater Fridolin Jenny, Verantwortlicher der Filiale in Lugano, finanzierte die Hochzeitsreise im Jahre 1843. Mit passenden Liedern wurde man auf das sorgsam erläuterte Geschehen eingestimmt.

Man verweilte gerne in einem Raum, der so gut zu Teilen des umfassenden Textes, dem Bildmaterial mit historisch bedeutsamen Gebäuden und Siedlungen und Kartenausschnitten passte. Ins Tessin entführt wurden beispielsweise jene, die sich in den kurzen Text auf der ersten Seite vertieften. Da schreibt Christina Marti-Jenny am 29. August 1843 unter anderem: «Wir steuerten etwas gemach längs dem Gestade hin an ein paar lieblichen Ortschaften vorbei und gelangten dabei unvermerkt in den Landungsplatz bei Lugano. Durchaus befriedigt … begaben wir uns zeitig zur Ruhe, denn morgen sollte die Reise nach Lugano angetreten werden.»

Am Zustandekommen dieser aussergewöhnlichen Dokumentation wirkten viele Personen sachkundig und hilfsbereit mit. So entstand die Herausgabe eines bewegenden Schilderns übers Reisen, der Lebensverhältnisse und Gesellschaft in der Biedermeierzeit.

Das Familienbuch, das den Herausgebern zur Verfügung stand, hat sich über vier Generationen hinweg in der Familie Marty vererbt. Es wird vermutet, dass das sorgsame Niederschreiben aufgrund vieler Notizen erst nach der Hochzeitsreise erfolgte. Im erwähnten Familienbuch sind neben der detaillierten Schilderung der Hochzeitsreise, Familieninternes, Wetterphänomene, politische und kirchliche Veränderungen in Kanton und Gemeinde, Zitate, Gedichte, Statistiken, Anekdoten und Zeitungsmeldungen enthalten. Das Reisetagebuch ist als Auszug des reichhaltigen, 236 Seiten umfassenden Familienbuchs zu verstehen. Diese Hochzeitsreise führte im Verlaufe von 17 Tagen ab Ennenda über den Gotthard ins Tessin, nach Mailand und via San Bernardino wieder ins Glarnerland zurück. Und wer sich mit Damaligem intensiv befassen will, erfährt einen riesigen Strauss von Einzelheiten, die nicht selten zum Schmunzeln und Staunen führen, durchaus Anteilnahme wecken, Bewunderung für die riesige Arbeit der sorgsam forschenden Autoren weckt.

Die kleine Reisegesellschaft kam problemlos voran, fuhr in bequemen Postkutschen über die Alpenpässe, kam zügig voran. In die Zeit dieser Reise fallen beispielsweise die Französische Revolution, der Wiener Kongress, die Fertigstellung der Linthkorrektion und der Gotthardstrasse, die Gründung von New Glarus. Erwähnt wird auch die Errichtung der Spinnerei und Weberei in Haslen (1848), die Erweiterung der Fabrikanlage mit Comptoir in Ennenda (1856), die Aufhebung der Niederlassung in Lugano (1857) und das Ende des Zeugdrucks bei der Firma Daniel Jenny & Cie. (1907).

Minuziös, kein Detail auslassend, ist die Reiseroute samt Distanz und Dauer der einzelnen Teilstrecken, benützte Verkehrsmittel dokumentiert. So erfährt der «geneigte Leser» beispielsweise, dass am 17. Reisetag mit der Postkutsche von Chur nach Walenstadt (4 Stunden und 15 Minuten, 46,2 km), dann mit dem Dampfschiff Minerva bis Weesen (1 Stunde und 15 Minuten, 15,4 km) und mit dem privaten Reisewagen von Weesen nach Ennenda gefahren wurde (1 Stunde und 15 Minuten, 14,8 km). Es wird dann der Brautvater und Reiseorganisator , Fridolin Jenny-Glarner samt Industriegeschichtlichem und Wohnsituation vorgestellt. Das Brautpaar Johannes Marti-Jenny, 1812–1874, und Christina Marti-Jenny, 1825–1900, und die drei Kinder, Ennenda als Wohn- und Industriegemeinde, das Hochzeitsfest – alles ist so liebevoll zusammengetragen und dokumentiert. So liest man über die Trauung: «Unsere Trauung wurde in ganz stiller einfacher Weise vollzogen. Denn was bedarf es grosser in die Sinne fallende Herrlichkeiten, wo das Herz ohnehin so voll, so beschäftigt ist.»

Über viele Seiten hinweg folgt die detaillierte Schilderung der Reise. Und so ein Tagebuch muss man einfach gerne kriegen. Da sind Kartenausschnitte, Skizzen der Transportmittel, gar blumige und ausführliche Texte, Fotos einzelner Gebäude, samt akribischem Beschrieb ,Geschichtliches, Fahrpläne, ganz persönliche Empfindungen, Rezepte. Nun kann man nicht einfach mit der Lektüre beginnen und sich rassig durch alles arbeiten. Oft verharrt man, liest etwas nochmals durch, staunt, schmunzelt, arbeitet sich in eine Welt rein, die mit Heutigem gewiss nicht vergleichbar ist.

So steht beispielsweisenach der Ankunft in Bellinzona: «Eilig kehrten wir nun zurück, denn im Gasthof harrte unser ein wohlbestelltes Nachtessen. (Rezept 10 = Kaninchenpfeffer). Den Abend brachten wir in trauten Kreise sehr vergnügt zu, nicht achtend des heftigen Gewitters, das sich unterdesen schnell entwickelt und bald den Regen stromweise herabsandte mit Donnern uund Blitz fleissig begleitet.» Ansonsten, so etwas später, sei man immer von ausgesuchtem Wetter begünstigt worden.

Wer Zeit hat, die exzellente Üppigkeit dieser Sprachgebung liebt, wird mit viel Vergnügen verweilen. Man fühlt sich ein klein wenig als Teil der Reisegesellschaft, lernt zum Schluss die Angehörigen der Braut und des Bräutigams kennen und kann sich mit 33 Rezepten ab Ankenzelte, über gefüllten und gebratenen Kapaun, Cazzuola, Spinattorte, Poltö, Costoletto alla milanese, Sbrisolona, Himbeersorbet, Marroni-Gnocchi bis hin zu Fricandeau de veau eingehend befassen und erfährt dabei grad noch, was wo eingenommen wurde.

Alles ist bemerkenswert sorgsam zusammengetragen und gegliedert. Man erspürt die Leidenschaft der Autoren, die sich mit so viel Leidenschaft mit allem befasst haben. Sehr Bemerkenswertes ist gelungen!