Wenn die Ich-Erzählerin in Renata Burckhardts «Tödis Raunen im Norden» von Zürich auf den König des Glarnerlandes schaut, so kommt ihr der im Fitnesszentrum ein bisschen vor wie ein voyeuristischer Nachbar, der sie den ganzen Tag verfolgt. Für Daniel Mezger dagegen, der in der Linthaler Primarschule den Tödi zeichnen soll, ist der nahe Riese kaum zu sehen, also schaut er seinem Banknachbarn ab, wie man den Berg zeichnet. Der Toggenburger Peter Weber wiederum sieht von Zürich aus durch die Webcam der Wasserschutzpolizei die Höchsttöne in der Luft über dem Glarnerland flimmern, was er mit einer Maultrommeleinlage belegt, und Claudio Landolt nähert sich dem Berg via «ChatGPTödi» und führt dabei den KI-Hype etwas ins Absurde. Diese vier lässt der Herausgeber ihre Texte an der Vernissage vorlesen, während die ersten dreissig Exemplare von «Mein Tödi» über den Tisch gehen.
Zukunftsbild
Er habe, so Monioudis, bei der Arbeit am Buch den Tödi für sich neu entdeckt und wolle nicht einfach 1000-fach gelesene Texte präsentieren. Vielmehr habe er sich gefragt: «Was lässt sich heute über den Tödi schreiben, das für die Zukunft Bestand hat?» Tatsächlich wird die Sammlung mit Emil Zopfis erzählerisch bearbeitetem «Speckschwartentext» eingeführt, sowie mit Franz Hohlers Tödi-Text «In die Öde». Dazwischen aber – weitgehend unbekannt – schreibt die im Sernftal geborene Vreni Stauffacher eine Erzählung über das soziale Leben dort, im 19. Jahrhundert. Und darauf nähert sich – sozusagen von gegenüber – Leo Tuor in «Cavrein» dem Piz Russein, in einer Welt, die von Stein- und Ziegenböcken bevölkert ist. Insgesamt sind es dreissig literarische Texte, die sich dem Tödi nähern, wobei Karl Kraus mit «Thierfehd ist hier, das sagt dem Menschsein ab, dass er es werde» wohl die klassische Zeile schlechthin prägte, und Roland Heer sich in «bergfahrt. ein dramatisches Gedicht» auf den Glarner Klassiker schlechthin, nämlich Ludwig Hohl referiert, aus dessen «Bergfahrt» die Sammlung «Auf dem Grat» aufnimmt.
Der Rahmen
Wer jetzt nicht das Glück hatte, dass ihm die Texte im Rahmen der Ausstellung «Der Tödi im Blickwinkel der Kunst II» vorgelesen wurden, das dürften über 39 000 aller Glarner/-innen sein, kann die lohnenswerte Ausstellung noch bis nächsten Sonntag in Linthal besuchen und sich dann das Tödi-Lesebuch fürs Nachttischchen kaufen. Denn so verschieden die Erkenntnisse sein mögen, die die dreissig Tödi-Texte vermitteln, sind sie doch alle angenehm kurz, wenn sie auch zum Teil aus längeren Texten, ja sogar aus Romanen ausgekoppelt sind. Aber die kann man ja dann auch noch lesen.
«Mein Tödi. Ein Lesebuch», Herausgegeben von Perikles Monioudis, AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2024