Erich Wyss und der freie Fall – Tim Krohn las

Begrüsst wurden er und die Zuhörenden im Mühleareal in Schwanden von Ruth Tüscher, Präsidentin des Kulturvereins Glarus Süd, Veranstalterin dieses Anlasses.



Tim Krohn las in Schwanden. (Bilder: p.meier) Tim Krohn las in Schwanden. (Bilder: p.meier)
Tim Krohn las in Schwanden. (Bilder: p.meier) Tim Krohn las in Schwanden. (Bilder: p.meier)

Was mit dem geplanten, kostspieligen Einbau eines Badezimmers für die betagte, im Eigenheim aufgenommenen Mutter – dies im fernen Val Müstair – an Literarischem verbunden sein wird, ahnte Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen und ab seinem zweiten Altersjahr im Glarnerland aufgewachsen, später über 20 Jahre hinweg in Zürich lebend, wohl kaum. Er entschloss sich als begnadet und leidenschaftlich schildernder Buchautor zu einer ganz besonderen Form von Geldbeschaffung. Er kreierte eine Liste mit rund tausend Wörtern, ab Aalglätte, Abartigkeit über beispielsweise Heiterkeit, Mysterium, Monogamie, Risikofreudigkeit, Sanftmut, Transsexualität bis Zwang, Zwiespalt und Zynismus. Das wurde publiziert, Sponsoren konnten sich mit dem von ihnen gewählten Wort bei Krohn melden. Hundertdreissig Interessenten warteten dann auf ihre ganz persönliche Geschichte. Das habe eingeschlagen, so Tim Krohn zu Beginn seiner Lesung im Mühleareal Schwanden.

Begrüsst wurden er und die Zuhörenden von Ruth Tüscher, Präsidentin des Kulturvereins Glarus Süd, Veranstalterin dieses Anlasses. Krohn zeigte auf, dass seither tausend Textseiten entstanden sind. Die verteilen sich auf drei Bände. Das Vorhaben hat immenses Wachstumspotenzial – nämlich dann, wenn weitere Texte gewünscht werden und Tim Krohn seinen gewaltigen Ideenreichtum um die Geschichten der elf Bewohnerinnen und Bewohner eines Zürcher Mietshauses weiterführt. Die befinden sich seit dem Jahre 2001 romangebunden in ständigem, wirbligem Auf und Ab, im Strudel gar vieler Gefühle, Erlebnisse, Entscheidungen, Schicksale, Beziehungsknatsch, Freuden und Leiden, Wirbligem, Traurigem, Bedenklichem – es will kaum enden. Tim Krohn beweist seine immense Kreativität, seine Lust am Fabulieren, er offenbart eine Begabung, um die ihn wohl einige zu Recht beneiden.

Das Jahr 2001 beginnt wechselvoll, für den pensionierten Tramfahrer Hubert Brechbühl, der – titelgebunden – eine Katze sucht; für das junge Paar Pit und Petzi, hin und wieder im Liebesrausch; für Julia Sommer; die arbeitslose Selina May; die Drogen suchende Efgenia Costa; das alternde Ehepaar Erich und Gerda Wyss, die nicht wissen, wer zuerst sterben sollte; den Rettungsfahrer Adamo Costa; für den Studenten Moritz Schneuwly mit unbändigem Talent und Spieltrieb. Tim Krohn versteht es meisterhaft, die Schicksale dieser und anderer Personen gar kunstvoll zu verflechten, ihnen Leben einzuhauchen, auf dass sich gar lebendige literarische Kurzweil ergibt. So vieles ist spannend, farbig, schrill, leicht kühn, zuweilen auf unterhaltsame Art schräg, leidenschaftlich, fröhlich, traurig.

Den hohen Grad an sehr Unterhaltsamem trug Tim Krohn vor. Man hörte ihm, der ein perfektes, schönes Bühnendeutsch pflegt, gerne zu. Seine Lesung war eine gar liebenswürdige Einführung in Welten, die man in sich aufnehmen kann; weglegen, wenn anderes zu tun ist; hervorholen, wenn Lust am inneren Auseinandersetzen mit dem Schicksal dieser so riesig intensiv lebenden Bewohnerschar besteht.

Tim Krohn spannt weite Bogen um Geschehnisse; liebt Details, denen man gerne folgt; es kommen Kurzweil, Betroffenheit à distance, Schmunzeln, Spannung, mannigfaltigste Gefühle hoch. Alles fliesst so dahin, vermengt sich, driftet auseinander, ballt sich zu Drohendem zusammen, ist auf unerwartete Art liebenswürdig, unerwartet. Krohn kommt einem wie der absolut begnadete Märchenerzähler, Gaukler, Schicksalsmacher vor. Tiefgründig, die Seele in ihren Festen erschütternd, kommen die Geschichten nicht einher; sie sind aber fern von Seichtem, Oberflächlichem, Leichtfertigem, vordergründig Belanglosem. Tim Krohn versteht es, die überbordende Fülle von Regungen meisterhaft zu verweben.

Da wäre beispielsweise die Episode zwischen Edith-Samyra, einst Pflegefachfrau am Kantonsspital Glarus, ihrem Hauptgeliebten, den Tubaspieler Hubert Brechbühl und dem Nebengeliebten, einem Bergführer aus Thun. Diese Edith-Samyra hat ein Flair für Königshäuser, ist betrübt, wenn Adelige ermordet werden (in diesem Falle geht es um das nepalesische Königshaus), trauert auf ganz spezielle Weise, löst sich aus ihrer Betroffenheit, wenn sie nackt in einem Bergseelein nahe der Auegstenalp badet, indianische Rituale zelebriert. Und Hubert Brechbühl schleppt auf dieser Wanderung seine Tuba mit, das Ritual begleitend, sich ebenfalls dem Bade hingebend, obwohl er dann seine Schweissfüsse zu entblössen hat. Einige kurzweilige Kapitel später ist zu erfahren, wie kreativ die Planung einer Alterssiedlung am ungarischen Plattensee an die Hand genommen wird – und alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.


So reiht sich Geschichte an Geschichte, führt vom Mehrfamilienhaus in Zürich manchmal ganz weit weg. Es ist eine herrlich verrückte Sache, zu der Tim Krohn Zugang gewährt, wissend, dass sich ganz viele auf Weiterführendes freuen.

Allein lassen kann man diese Hausbewohner noch lange nicht. Tim Krohn mit Sicherheit einige Erwartungen zu erfüllen.