Weisstannen und Luchse haben so manches gemein: Beide sind Waldbewohner und beide trifft man im Kanton Glarus seltener an als erwartet. Letzteres ergaben zwei Studien, die im vergangenen Jahr den Bestand der Raubkatze respektive die Situation der Weisstanne im Glarnerland untersucht haben. Und noch etwas verbinden Tanne und Luchs: beide haben eine besondere Beziehung zu Reh und Gämse. Allerdings aus ganz verschiedenen Gründen.
Das Wild nutzt den Wald
«Wald und Wildhuftiere im Kanton Glarus» titelt die Abteilung Wald und Naturgefahren die Bilanz zu ihren Waldverjüngungskontrollen, die sie seit 1994 im Glarnerland durchführt. Damit unterstreicht sie den Einfluss des Schalenwilds auf den Wald, welcher der natürliche Lebensraum des Wilds und bei Störungen durch Menschen auch ein wichtiges Rückzugsgebiet für Reh und Gämse ist. Gleichzeitig ist aber bekannt, dass hohe Bestände wildlebender Huftiere, wie sie derzeit in unseren Wäldern vorkommen, das Aufkommen einzelner Baumarten beeinträchtigen oder ganz verhindern können. Der Grund: das hungrige Wild beisst gern die Endtriebe von jungen Bäumen ab. Das überlebt nicht jeder Baum und selbst wenn, bremst starker Verbiss sein Wachstum. Entsprechend dauert es länger, bis solche Jungbäume dem Einfluss des Wilds entwachsen sind. In der Zwischenzeit werden sie von diesem wiederholt «eingekürzt». Ein Teufelskreis, der sich dadurch verschärft, dass Bäume zum Wachsen Licht benötigten. Verzögert sich das Wachstum eines Baumes, wird er von seinen Nachbarn überholt, in deren Schatten er sich bald wieder findet. Der damit verbundene Lichtmangel wirkt sich zusätzlich negativ auf sein Aufkommen aus.
Tanne mit Aufwuchsproblem
Das wäre kein Problem, wenn alle Baumarten gleich stark von Verbiss betroffen wären. Denn für einen widerstands- und anpassungsfähigen Wald ist eine vielfältige, standortgerechte Zusammensetzung der Baumarten wichtig. Das gilt besonders in einem Bergkanton wie Glarus, wo fast die Hälfte des Waldes Dörfer, Strassen und andere Infrastrukturanlagen im Tal gegen Murgänge, Lawinen oder Felsschlag sichert. Doch das Schalenwild ist wählerisch. Es verbeisst mit Vorliebe junge Weisstannen. Ausgerechnet jene Baumart, die mit ihren tiefen Wurzeln steile Hänge stabilisiert. Nach 30 Jahren Waldverjüngungskontrolle zeigt die Bilanz des Kantons, dass die Strategie, durch Holzen Licht in den Wald zu bringen und mittels Jagd den Druck des Schalenwilds auf junge Bäume zu senken, Früchte trägt. Zwar sind nach wie vor 45 Prozent der Glarner Waldfläche durch Verbiss beeinträchtigt. In den untersuchten Jagdbanngebieten, die dem Wild störungsarme Rückzugs- und Lebensräume bieten, kommt Verbiss besonders häufig vor. Es gelang aber, die Verbissintensität insgesamt so stark zu senken, dass sich Buche und Fichte heute wieder verjüngen können. Bei Ahorn, Esche und Vogelbeere hat sich die Situation immerhin verbessert. Bei der Weisstanne ist der Einfluss des Wilds aber noch so stark, dass diese Baumart nur punktuell aufkommen kann. Entsprechend zieht der Kanton das Fazit, dass die Richtung der Entwicklung zwar stimme, es für eine funktionierende Verjüngung des Glarner Waldes aber weitere Anstrengungen brauche. Zum Beispiel eine stärkere Koordination der Massnahmen Holzen und Jagen. Auch Schützenhilfe durch Grossraubtiere wie den Luchs dürfte willkommen sein.
Weniger Luchse als in anderen Gebieten
Die Raubkatze war in der Schweiz ausgerottet und wurde in den 1970er-Jahren wieder angesiedelt. 2024 untersuchte die Stiftung KORA, die für das nationale Grossraubtier-Monitoring zuständig ist, ihr Vorkommen in der Zentralschweiz Ost, einem Gebiet, das auch das Glarnerland westlich der Linth umfasst. Mit 84 systematisch platzierten Fotofallen gelang es, neun selbstständige Luchse sowie drei Jungtiere aus verschiedenen Würfen nachzuweisen. Aufgrund dieser Daten rechnet KORA mit rund 1,16 Individuen pro 100 km2 geeignetem Lebensraum. Luchse haben natürlicherweise grosse Territorien. Diese benötigen sie, weil sie sich auf die Jagd nach Rehen und Gämsen spezialisiert haben und dabei auf den Überraschungseffekt setzen: Sie schleichen ihre Beute an und überwältigen sie aus dem Hinterhalt. Ist das Wild zu aufmerksam, sinkt ihr Jagderfolg. Um das zu verhindern, wechseln Luchse in ihren Revieren regelmässig das Jagdgebiet. Im Vergleich mit anderen Regionen in der Schweiz sei die Luchs-Dichte im untersuchten Gebiet trotzdem eher gering, hält KORA in ihrem Bericht fest. Zudem wurden Luchse im Glarnerland vor allem im nordöstlichen Kantonsteil nachgewiesen. Nachweise aus dem Gebiet Klausenpass-Linthal fehlen hingegen. Da Luchse in der Schweiz mit einem Inzuchtproblem kämpfen, wäre es für sie wichtig, solche Verbreitungslücken zu schliessen. Diese Hoffnung besteht immerhin, denn grundsätzlich eignet sich für sie fast das ganze Glarnerland als Lebensraum.
Der Luchs als Teil der Lösung
Das ist eine gute Nachricht für die Weisstanne, denn wie überall in der Natur beeinflussen sich auch im Wald Arten und Prozesse gegenseitig. So erlegt ein Luchs ungefähr ein Reh oder eine Gämse pro Woche. Auch wenn die Raubkatze allein einen hohen Wildbestand kaum zu senken vermag, in Kombination mit anderen Faktoren wie der Jagd durch den Menschen, Verluste durch harte Winter oder Krankheiten scheint es ihr zu gelingen. Das könnte jungen Weisstannen und anderen durch Verbiss geplagten Baumarten von Zeit zu Zeit das für ihr Aufkommen nötige Zeitfenster verschaffen. Die Stiftung KORA erforscht Zusammenhänge zwischen Luchs, Wild und Wald momentan im sankt gallischen Weisstannental, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Glarnerland. Wer wissen will, wo Luchse heimisch sind, kann diesen Sommer ein Lebensraummodell im Naturzentrum im Bahnhofsgebäude von Glarus besichtigen. Auch die beiden Studien liegen dort zur Ansicht auf. www.naturzentrumglarnerland.ch