Künstlerische Verschönerung des Volksguts

Am Samstagabend wurde der Musik den Vorrang gewährt, die „Musikwochen Braunwald“ zu eröffnen, am Sonntag folgte das Wort. In einem faszinierenden Referat entfachte Iso Camartin, emer. Professor für rätoromanische Literatur und Kultur, ein brillantes Feuerwerk an Rhetorik zur diesjährigen Thematik „Volksmusik als Quelle der Kunstmusik“. Der Theorie folgte im anschliessenden Konzert ein breit gefächertes Klangbild, farbenreich gemalt durch das Sextett „klangcombi“ unter der Leitung von Noldi Alder, einem Mitglied der traditionsreichen Alder Volksmusiker-Familie aus dem appenzellischen Urnäsch.



Iso Camartin begeisterte und beeindruckte das Publikum mit seinem Referat: „Welche Musik gehört welchem Volk?“ (Bild: rzweifel)
Iso Camartin begeisterte und beeindruckte das Publikum mit seinem Referat: „Welche Musik gehört welchem Volk?“ (Bild: rzweifel)

Ueber die Originalität des Volksliedes

Jede noch so kleine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verspürte seit alters her das Bedürfnis, als Ausgleich zum oftmals harten Alltag in der Musik, im Gesang und Tanz Leichtigkeit und Freude zu finden. Auch wenn jede Gemeinschaft überzeugt ist, „ihr Volksgut“ sei ihr Ureigenstes, zeigt die neuere Forschung auf, dass durch Wanderschaften, Handel, Fremdherrschaften und auch Kriege Originalität praktisch unmöglich ist. Das gesamte Volksliedergut ist sich im Kern jedoch sehr ähnlich, einzig durch die Anpassung an lokale Eigenheiten unterscheidet es sich. Dies zeigt sich ganz markant in „unseren“ Sennenlieder, deren Inhalte sich um das gleiche menschliche Erleben und Fühlen ranken, wie überall auf der Welt: es werden die Schönheit der Natur besungen, die Einsamkeit, Liebes-Sehnsüchte, Leid… – na ja, wer kennt das nicht? Doch sind wir uns auch bewusst, wie prägend, ja sogar identitätsstiftend dieses Kulturgut sein kann?

Weiterentwicklung des Volksliedes in der Kunstmusik

Geniale Musiker, die in ihrem Kulturkreis stark verankert waren, haben immer wieder Texte wie auch Lieder aus dem Volk als Grundlage zu kunstvollen Kompositionen verwendet. Gustav Mahlers „Wunderhorn-Lieder“ eignen sich bestens als Illustration, wie deutsches Volksliedergut vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert Eingang in die Kunstmusik fand. Die beiden Schriftsteller Achim von Arnim und Clemens Brentano veröffentlichten die Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ anfangs des 19. Jahrhunderts und Texte daraus inspirierten Gustav Mahler zu 12 Kunstliedern wie auch Sinfonien. Bis ins 20. Jahrhundert waren es vor allem europäische und russische Komponisten, in deren Werke oftmals Volkslieder als Grundlage dienten, so beispielsweise bei Brahms, Bartok, Berg, Tschaikowski, Mussorgski. Als George Gershwin 1924 die „Rhapsody in Blue“ und Leonard Bernstein 1957 sein Musical „West Side Story“ komponierten, floss ein völlig neues Volksgut in die Kunstmusik ein: die Jazz-Rhythmen der schwarzen Bevölkerung Amerikas.

„Nüd no hondsgwönlichi Musig“

Bis heute finden Musiker und Komponisten mit klassischer Ausbildung und Volksmusiker in immer neuen Kombinationen zusammen, so auch im Sextett „klangcombi“. Zuerst fällt einmal auf, dass alle Musikerinnen und Musiker Notenblätter benützen nur Noldi Alder nicht, dessen Notenständer silbrig und leer glänzt im Kronleuchterlicht des vollbesetzten Musiksaals des Märchenhotels Bellevue. Doch Noten braucht er auch nicht, denn seit über 120 Jahren ist die Appenzeller Volksmusik den Nachkommen der Familien Alder schon von Kindsbeinen an vertraut. Allein die instrumentale Besetzung mit Hackbrett, Violinen, Viola, Cello, Bass und Schlagzeug zeugt davon, dass die bekannte Haus- und Tanzmusik nicht in der reinen über 200-jährigen Tradition zur Aufführung kommt durch „klangcombi“. Doch „rein“ fing beinahe jeder Tanz an, ob Schottisch, Polka, Mazurka oder Walzer, bis sich die bekannten Melodien abrupt oder in sachten Uebergängen in freie Gestaltung auflösten und – auch wieder ins Bekannte zurückfanden. Doch was am meisten faszinierte, waren die traditionellen Kuhreiher und Zäuerlis von Noldi Alder, die in freier Interpretation durch die Musikerinnen und Musiker harmonisch untermalt wurden. So konnte das Publikum im Konzert direkt erfahren, was Iso Camartin in seinem Referat aufzeigte: Ueber Jahrhunderte gepflegtes Volksgut beeinflusst durch alle Zeiten und Strömungen hindurch bis ins Heute.<o:p></o:p>