Leseprobe von "Henry J. Russel's Gestohlene Freiheit"

glarus24 präsentiert in den kommenden Tagen Auszüge aus dem neuen Roman von Martin C. Mächler, dem Thriller "Henry J. Russel's Gestohlene Freiheit".



Leseprobe von "Henry J. Russel's Gestohlene Freiheit"

„Hinaustreten, Russel!“

Die schwere Eisentür zur Zelle 1072 öffnete sich langsam. Russel trat hinaus und wandte sich nach rechts. Seit sieben Jahren, zweimal pro Woche, immer dieselbe Prozedur: 25 Schritte geradeaus, dann nach links, drei Schritte geradeaus und dann nochmals nach links. 34 Stufen die Treppe hinunter, fünf Schritte geradeaus, anhalten. Warten, bis der Wärter vorbei ging und die Tür öffnete, die zum Freigang-Gelände führte. Im linken Bereich standen sechs Metallkäfige. Drei Meter breit, fünf Meter lang, zweieinhalb Meter hoch. Die offizielle Bezeichnung war Walk Alone, doch die Häftlinge nannten es den Rattenkäfig. Das einzige Freizeitvergnügen, das Russel seit sieben Jahren genoss. Das grosse Freigang-Gelände befand sich auf der hinteren Seite des Gebäudes. Da, wo Russel sass, waren nur die ganz schweren Jungs untergebracht, oder, wie in seinem Fall, diejenigen, die geschützt werden mussten. Russel hatte sich seit seiner Inhaftierung nie einer Gruppe angeschlossen. Daher galt er unter den Häftlingen als Verräter. Und Verräter lebten meistens nicht allzu lange. Da gab es die Latinos, die Weissen, die Schwarzen. Jede dieser Gruppen hatte ihre eigene Ecke. Doch Russel wollte nicht dazugehören.

Russel ging im Rattenkäfig auf und ab, zum letzten Mal. Morgen wurde er entlassen. Irgendwie komisch, dachte er sich. Er hatte sich jetzt schon so daran gewöhnt. Zweimal in der Woche. Zwei Stunden bei jedem Wetter. Fünf Meter hin, fünf Meter zurück. Aussicht gab es keine, ringsum nichts als graue Mauern. Kein Baum, kein Gras, kein Vogel, den man hätte singen hören, nichts. Ab und zu wehte der Wind die Meeresluft oder das Tuten eines Schiffhorns über die kahlen Mauern. Fünf Meter hin, wieder fünf Meter zurück. Zwei Stunden lang. Bis der Wärter kam und ihn in seine Zelle zurückbrachte. Eine Zelle, die eineinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter lang war. Russel kannte jeden Quadratzentimeter seiner Zelle. Stundenlang lag er auf seiner Pritsche und starrte die Decke an. Den Lärm, der aus den anderen Zellen kam, hörte er schon lange nicht mehr. Wenn andere Häftlinge ihn riefen, gab er keine Antwort. Er schaute auf seine Uhr. Gleich Essenszeit. Er stand auf und wartete, bis der Wagen kam. Durch die schmale Öffnung in der Gittertüre wurde ihm ein Tablett mit seinem Essen gereicht. Es schmeckte ihm nicht. Und doch ass er, jeden Tag dreimal. Heute würde er zum letzten Mal die Gefängnisküche geniessen. Das Frühstück, das er morgen noch bekommen sollte, beschloss er auszulassen. Er stellte sich vor in einem Restaurant zu sitzen, vor backfrischen Brötchen, Butter und Marmelade, dazu duftender Kaffee.

Doch noch war es nicht soweit, noch eine Nacht. Nach dem Essen begann Russel mit seinem täglichen Fitnessprogramm. Liegestütze, Rumpfbeugen, Beinmuskulatur. Das war notwendig, um nicht vollends einzurosten. Danach legte er sich wieder hin. Er dachte an nichts, schaute sich die Wände, in denen er sieben Jahre verbracht hatte, noch einmal an und zählte die Rostflecken an den Gitterstäben. Es wurden immer mehr. Das Licht wurde gelöscht, doch dunkel war es nicht. Die Scheinwerfer, die das ganze Gefängnisgelände beleuchteten, erhellten die Zellen genügend stark, um darin ohne Mühe die Zeitung zu lesen. Gegen Mitternacht schlief er ein. Sein Schlaf war unruhig und Russel war froh, als er wieder geweckt wurde.

„Hinaustreten, Russel.“

Doch diesmal war es anders.

„Haben Sie Ihre Sachen gepackt?“, fragte der Wärter.

„Ja, Sir!“, antwortete Russel.

„Gut, dann folgen Sie mir.“