Ein Buch mit etwas mehr als zweihundert Seiten ist ebenfalls auf meinem Schreibtisch gelandet. Verfasst hat den Inhalt Luzia Tschirky. Sie war TV-Korrespondentin für Russland, die Ukraine, Belarus und den Kaukasus fürs Schweizer Fernsehen. (SRF). Zwischen 2019 und 2022 lebte sie in Moskau. Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine war sie in Kyjiw unterwegs. Sie berichtete seither laufend übers Kriegsgeschehen – offen, kompetent, mit spürbarer Betroffenheit.
Die Lektüre stimmt einen sehr nachdenklich, weckt hohe Anteilnahme. Tschirky schreibt bewundernswert offen, ehrlich wertend. Vieles hält man kaum für möglich – beispielsweise die Brutalität der Angreifenden, die blinde Zerstörungswut, das wahllose Töten Unbeteiligter, das Auseinanderreissen von Familien, Kriegsschicksale, das Niedertrampeln von Kulturen, himmelschreiende Prozesse, Willkür der richterlichen Instanzen. Im Leser machen sich Traurigkeit und Betroffenheit lähmend breit, es wächst ein riesiges Unverständnis – mit dem Wissen, dass vieles ganze Generationen richtiggehend kaputt macht.
Luzia Tschirky schildert engagiert, klar und mutig wertend. Sie zitiert Zeugen, berichtet von Treffen, von Interviews, die teilweise unter Einhaltung vieler Vorsichtsmassnahmen entstanden. Sie schildert, wie willkürlich man auch als akkreditierte Fachperson behandelt wurde, wie schwierig es zuweilen war, Kontakte überhaupt herzustellen.
Sie hat viele Bekannte und Freunde in den verschiedenen Ländern, einige sind verschwunden, anderes ist geblieben. Die Explosionen, wie sie im einleitenden Kapitel niedergeschrieben sind, bedeuten eine tiefgreifende Zäsur, für die Buchautorin, für die sich das persönliche Leben urplötzlich in ein Vorher und Nachher aufteilt. Diese Zäsur betrifft auch die Ukraine und Russland.
Luzia Tschirky ist eine profunde Kennerin der Länder, der Bevölkerung, der einst erlebten und gelebten Kulturen. Die ersten Momente des zerstörerischen Alltags umschreibt sie mit «surreal». Sie erwähnt Fakten, politisch Verantwortliche, Mechanismen eines Kriegs. Es schliessen in diesem verstörenden Erzählen eine Unmenge von Fakten an, wie sie durch Interviews, Besuche, Rumreisen, Einholen von Informationen, Zurückfragen gewachsen sind.
Man bewundert die Ehrlichkeit und Offenheit mit der berichtet wird, man spürt Resignation, Unverständnis. Man spürt auch die Kraft der leidenschaftlich suchenden, kombinierenden, wertenden Fachfrau. Man bewundert ihren Mut und ihre professionelle Hartnäckigkeit, man spürt ihre zuweilen riesige Betroffenheit.
Sie gliedert ihr Erfahren in die Kapitel «Vorboten des Unheils» (Woronesch, Moskau), «Leben im Nirgendwo», «Eine Mauer aus Glas (Moskau, St, Petersburg im Mai 2022) und «Befreit aus Trümmern».
Es ist keine leichte Lektüre. Vieles, zu Vieles macht unendlich betroffen, stimmt riesig traurig und mündet in die immer gültige Erkenntnis, dass Konflikte nie, aber auch gar nie, auf diese Art gelöst werden können.