Nach oben sinken – Lese-Dinner mit Wilfried Meichtry

Im Gasthaus Richisau, beinahe «hoch über dem Alltag», entführte der Schriftsteller und Drehbuchautor Wilfried Meichtry – im Wallis geboren, seit vielen Jahren im Bernischen lebend – mit seinem Roman in eine ungemein vielschichtige, ungewohnte, spannende Welt; dies dank einem Jungen, der sucht, in sich so viele Fragen birgt, sich mitteilt, riesig unbequem sein kann. Er geht seinen Weg, lässt den bald fasziniert mitvollziehenden Leser daran teilhaben.



Lese-Dinner mit Wilfried Meichtry (Bilder: peter meier)
Lese-Dinner mit Wilfried Meichtry (Bilder: peter meier)

Der Jugendliche eckt an, ist fantasievoll, hartnäckig fordernd, ist kreativ, für seine Angehörigen, die Klassenlehrerin und den Dorfpfarrer alles andere als pflegeleicht und angepasst. Er wächst in einer Welt auf, die ihn nicht willkommen geheissen hat, die voller Ecken, Kanten und Hindernisse ist. Es handelt sich um die beengende katholische Dorfwelt der 1970er- und 1980er-Jahre, es geht um Erwachsene, die auf quasi Bewährtes absolut fixiert sind, die nach strengen Vorgaben leben, kein Ausweichen dulden, mit Unverständnis und Härte dann reagieren, wenn «Andersdenkende» zu fragen, zu vermuten beginnen, sich zur Wehr setzen.
Der Dorfjunge lebt in dieser für ihn alles andere als einfachen Welt. Er will Antworten auf seine vielen Fragen, stösst aber immer und immer wieder auf Unverständnis, Abwehr, Verurteilung. Er zieht sich zurück, ist spürbar resigniert, da er niemanden als Partner, Begleiter hat. Er lebt immer stärker in seiner Welt, die ihm riesig behagt, deren Inhalte von den Erwachsenen aber gar nicht goutiert werden. Meichtry öffnet diese Welt in wohltuend reichhaltiger, willkommen faszinierender Art.
Der Junge wird zum Aussenseiter, ihn versteht kaum jemand mehr. Er stösst beim Dorfpfarrer, bei seiner Lehrerin, bei den Mitschülern, auch bei den eigenen Eltern auf eine irgendwie unbezwingbare Mauer der Unverständnisse, der schroffen Ablehnung – eine Haltung, die sich über mehrere Jahre dahinzieht.

Der Junge erlebt rasch, wer ihn innerlich versteht, wer bunt und kreativ zu denken weiss, Abwechslung vorlebt. Es ist vielleicht die Enge des Bergtals, des kleinen Weilers, die dem ausdauernd Suchenden im Wege ist. Meichtry stimmt ein mit: «Es ist kein Unglück im Wallis geboren zu sein. Ein besonderes Glück ist es aber auch nicht. Vor allem dann nicht, wenn man in einem Weiler gezeugt wurde, der Hexenplatz heisst und an den Galgenwald grenzt.»
Der Junge wächst mit Geschwistern auf und hat einen Vater, der Gefahren aller Art mit Nachdruck aus dem Weg gehen will, seine Kinder und die Gattin zur Flucht antreibt, die erreichte Zeit bis zum schützenden Ziel pedantisch misst. Nachbarn schütteln zu Recht ihren Kopf.
Der Junge ist vor allem von seiner Grossmutter und deren riesig starke Erzählkunst, deren Auftreten und starken inneren Haltung ungemein fasziniert. Sie vermag Krankheiten dank Erzählen zu heilen, stellt den Pfarrer dann bloss, wenn es situationsbezogen sein muss. Der Junge schildert Unerwartetes, schreibt darüber, erntet scharfe Ablehnung. Seine Kreativität und Erfahrungen sind nicht gefragt. Sein Wegdriften, der Gang in so Phantasievolles, dessen blumiges Schildern in Aufsätzen, der trickreiche Besuch der Kurzmessen und anderes wecken in seinem persönlichen Umfeld eine riesige, lange währende Ablehnung. Es wird beispielsweise über Lisür, dem schlimmsten aller Pfynwaldräuber; über Winnetou: ein Dorftheater mit der Massregelung eines Hauptdarstellers durch den Jungen; das Begegnen mit dem englischen Vater; die Erschaffung der Welt; Stundengebete; Katechismus, religiöse Pflichten; Begegnung mit Nackten im Pfynwald und anderes berichtet. Es ist eine überreich farbige und packende Fülle.
Immer wieder taucht im ersten Teil des von starken Leidenschaften geprägten Buches der Name Jean Donazzolo auf. Der Junge findet heraus, das dieser Name vom Grabstein entfernt worden ist Warum? Er will unter allen Umständen herausfinden, was da geschehen ist. Nur ansatzweise kriegt er Antworten. Die Erwachsenen verweigern sich – was noch stärker zum Suchen führt. Im Kollegium Spiritus Sanctus in Brig geht die Suche weiter. Der Junge, wissbegierig, mit detektivischem Spürsinn ausgestattet, wird Schüler dieser Stätte, in der auch Donazzolo geweilt hat. Im Archiv liegt die Akte, Einblicke werden ihm verwehrt. Er raubt diese Unterlagen, wird erwischt und fliegt raus. Der erste Teil schliesst mit: «Ich hatte keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Meine Zukunft erschien mir als gigantisches schwarzes Loch, das mich zu verschlingen drohte … Es ist ein Unglück im Wallis geboren zu sein.»

Der zweite Teil beginnt mit Nichtstun, Rumhängen, kurzzeitiger Arbeit in der Aluminiumfabrik in Chippis – und der Entlassung, weil sich der scharfsinnig recherchierende Junge mit der Obrigkeit im Betrieb anlegt, unbequem ist, zu Recht fordert. Diese Entlassung ist ein weiterer Schock für die Eltern. Meichtry führt einen in der buchgebundenen Vielfalt riesig gekonnt rum.
Der Heranwachsende entscheidet sich, über Monate hinweg unzählige Schafe auf einer entlegenen Alp zu hüten, damit Distanz zu gewinnen, sich mit der ihm eigenen Welt zu befassen. Seinen Job erledigt er zur hohen Zufriedenheit der Schafhirten. Eingeflochten ist eine intensive Liebesbeziehung samt belastendem Ende. Er kehrt nach dem bewegenden Alpsommer nach Leuk zurück, findet bei einer aristokratisch auftretenden älteren Dame eine Bleibe. Aus dem distanzierten Nebeneinander wird urplötzlich eine Zusammengehörigkeit, die aus anfänglich kaum nachvollziehbaren Gründen gewachsen ist. Madame Chastonay hatte sich über Jahre dahinziehende intensive, innige Kontakte zu jenem Jean Donazzolo, dessen Leben den Jungen derart fasziniert hat, dass er alles erfahren wollte. Es ist im Buch angemerkt: «Ich denke an den Reichtum und Trost, den das Erzählen in mein Leben gebracht hat und noch immer bringt. Eigentlich bin ich plötzlich überzeugt, ist die Welt der Geschichten und der Fantasie sehr viel beständiger, bewohnbarer und dauerhafter als die Wirklichkeit».

Schicksale hat Meichtry mit hohem inhaltlichem und sprachlichem Reichtum meisterhaft und spannend ineinander verwoben.

Mit der mehrteiligen Lesung verbunden war ein sorgsam vorbereitetes und aufgetischtes Essen, alles liebevoll zusammengestellt und vom Wirtepaar Esther Stieger und Mathis W. Kundert mit Helfenden serviert. Es war der dritte von vier Anlässen, der im Gasthaus Richisau von baeschlin littéraire angeboten war. Catherine Etter begrüsste und führte ein.
Wilfried Meichtrys Vielseitigkeit, sein sorgsames Recherchieren, der Einbezug vieler persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen – er ist Drehbuchautor, Historiker und Schriftsteller – kam beim Lesen der Buchpassagen und den persönlichen Einflechtungen zum Tragen, überzeugend, kurzweilig. Man spürte seine Bezüge zum Geschehen, das in den Siebziger- und Achtzigerjahren in einer von tiefer Religiosität geprägten, engen Welt begann. Meichtry zeigte auf, dass er einst einen ähnlichen Weg einschlug, nicht genau wissend, was er werden wollte. Er kam dann auf Stationen des Heranwachsenden, auf dessen drängende Fragen, die unverständlich harte, abwehrende Haltung des Umfeldes zu reden. Wenn es ums engagierte, zuweilen enorm lautstarke Positionieren, um Parteinahmen ging, stand die Grossmutter Maya, die Schwester von Jean Donazzolo, im Zentrum.
Meichtry lenkt mit seinem wechselreichen Schildern behutsam durch eine Fülle von verschiedensten Begebenheiten, die anlässlich der Lesung nicht umfassend Erwähnung finden konnten, mit Bezug auf die sich wederholenden Rituale an Allerheiligen, eine Verdeutlichung erfuhren. So viele Schicksale hat Meichtry aufgegriffen, ineinander verflochten, erfühlbar gemacht.

Lange befasste er sich mit der Beantwortung einer Frage um einen Piloten in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, um den Verkauf eigener Kinder, die Nazizeit. Historisch enorm Bewegendes fand eine umfassende Erwähnung. Es ging um Franz von Werra, in Leuk, Oberwallis, geboren, deutsch-schweizerischer Luftwaffenoffizier und Jagdflieger und dessen wechselvolles Schicksal. Meichtry wusste umfassend zu erzählen.

Mit dem Abschied durch die Verantwortlichen verbunden war der Hinweis auf die letzte Veranstaltung vom 27. September, zum Lesedinner mit dem Schriftsteller-Ehepaar Dana Grigorcea und Perikles Monioudis – wiederum im Richisau.