Platzspitz, Letten und heute

Die Inhaberin der Kulturbuchhandlung Wortreich in Glarus, Christa Pellicciotta, und ihre Helfer wurden von der Zahl der Interessierten überrannt. Alle verfügbaren Stühle waren rasch besetzt, so setzte man sich eben auf den Boden. Nach der herzlichen Begrüssung und den Hinweisen auf Kommendes mit Film, Musik, Lesungen und anderem nahmen Michelle Halbheer, Autorin des viel Aufsehen erregenden Buches «Platzspitzbaby» und Moderator Urs Heinz Aerni auf der kleinen Bühne Platz.



Geschäftsführerin der Kulturbuchhandlung Wortreich in Glarus.
Geschäftsführerin der Kulturbuchhandlung Wortreich in Glarus.

Auf eine Lesung wurde verzichtet. Urs Heinz Aerni machte Zeitprobleme und eine sicher bekannte Problematik mit einschneidenden Folgen geltend. Er gliederte sein Erfragen in Sequenzen, die auf Interesse stiessen. Fragen aus dem Publikum wurde viel Zeit eingeräumt. Bald war klar, dass viele den erschütternden Inhalt des Buches schon kannten und sich innerlich mit vielem auseinandergesetzt hatten. Michelle Halbheer und Urs Heinz Aerni waren so etwas wie ein eingespieltes Team, oft gemeinsam unterwegs, mit Abläufen spürbar vertraut. Ihre Mission soll all jene erreichen, die drogenabhängig sind und einen Ausweg aus ihrer Krankheit suchen. Aussagen und Hilfen sollen zu jenen gelangen, die in derartigen Milieus aufwachsen, sich befreien wollen. Zu Beherzigendes soll Ämter und deren Verantwortliche erreichen, ihnen das auf den Weg mitgeben, was noch angewendet werden, was Abstand und Ausstieg bedeuten kann. Ein Teil des Buches ist ein riesiger Aufschrei, ist Hilflosigkeit, Resignation, Fall ins Unendliche. Ein anderer Teil ist Botschaft, die mit viel Liebe, Zuneigung, Verständnis und leidenschaftlicher Hingabe zu tun hat. Und wieder ein Teil ist Auseinandersetzung mit Ämtern, handelt von Erfahrungen im scheinbaren Aufgehobensein freikirchlicher, vordergründig hilfreicher Familien. Vieles macht stark betroffen, weckt Unverständnis, Ungläubigkeit, Zorn, schürt Voyeurismus beim Durchlesen der Szenen auf dem Platzspitz und im Letten. Und wieder anderes weckt Bewunderung über die Stärke dieser jungen Frau, die mit unmittelbar Erlebtem als Helferin, Beraterin und Begleiterin unterwegs ist, die so viel Überzeugung und immense Ehrlichkeit ihren Aussagen zugrunde legt. Sie weiss um ihre Verletzlichkeit. Sie sucht ihre Hilfen sehr gezielt. Ihr Vater und Musik spielen in diesem Leben starke, bedeutende Rollen, deren Inhalte tragen, raushelfen, aufbauend sind.

Michelle Halbheers Schildern kommt zuweilen dem Tempo eines stürmischen Wirbelwinds gleich; einem Wind, der rüttelt, stört, wegreisst, davonträgt. Die Buchinhalte sind erschreckende, aufwühlende Tatsachen. Die Mehrzahl der Lesewilligen haben es gut. An sicherer Stätte wird von zuweilen schlicht Unvorstellbarem Kenntnis genommen. Das Buch entstand, weil sich die in Zürich lebende Journalistin Franziska K. Müller mit der Autorin zusammenfand und nach einer riesigen Zahl von Begegnungen ein Tatsachenbericht wuchs, den es in dieser Direktheit und schonungslosen Offenheit noch kaum einmal gegeben hat.

Am Anfang steht die dreiköpfige Familie, die attraktive Mutter mit afrikanischen Wurzeln, die süsse Kleine, der arbeitsame Vater. Die Eltern lernten sich im Rotlichtmilieu kennen. Die Mutter war damals 22 Jahre alt, der aus dem Thurgauischen stammende Vater ein Jahr älter. Dem Vater waren Exzesse fremd. Er hatte – so ein Passus des Buches – eine Schwäche für schöne Mischlingsfrauen; obwohl Michelles Mutter sehr dominant auftrat und eine übertriebene Arroganz an den Tag legte. Sie, die schwerstabhängige Mutter, bestimmt das Leben der Heranwachsenden, das Stürmische, die Betroffenen permanent belastende Auf und Ab mit einer riesigen Palette an Gefühlen, Stimmungen, Agieren, Abwehr, Gewalt, berechnender Raffiniertheit. Fast unwirklich muten die zahllosen Rettungsversuche des Vaters und das tagelange Wegbleiben der Mutter, das Leben in Schmutz, Chaos und anderes an. Die Inhalte lassen einen nicht los. Vieles ist mit einer riesigen Offenheit protokolliert. Zuweilen möchte man das Sammelsurium an kleinen Erlebnissen in sich aufnehmen, anderes vergessen, sich raushalten. Es bleibt ein Staunen, dass aus diesem Meer mit Leid, Freuden, Chaos, Elend, Lebensbedrohlichem, Armut und existenzieller Angst eine Person heranwächst, die, heute um 28 Jahre alt, ihren Weg vor sich sieht, ihn mit viel Energie beschreitet und bereitwillig breiter macht, damit andere sich zu ihr gesellen, von ihr lernen und erfahren.

In der Beantwortung vieler Fragen und dem Aufnehmen zahlreicher Gedanken redet Halbheer über Schuldgefühle, die nach Abschluss der Arbeiten am Buch nie existiert haben. Ihr Buch ist keine Abrechnung mit Vergangenem, soll die Mutter nicht als schlechte Person hinstellen. Unsere Gesellschaft ist im Umgang mit Kindern von Drogenabhängigen in grossen Teilen überfordert. Musik hat sie gerettet. Im einstigen «Voice of Switzerland» rangierte sie weit vorne. Musik ist in ihrem Heute von tragender Bedeutung. In Einstigem und Gegenwärtigen sei ihr Vater das einzig Konstante, Verlässliche. Ihr ist bewusst, dass nicht zu rasch ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden darf, dass Ämter für Abhängige nicht selten weit mehr Zeit aufwenden als für deren Kinder und Partner.

Die Buchautorin nahm Fragen aus dem Publikum und Gesprächsvorgaben des Moderators auf, mit geschickter Wortwahl, Wortreichtum und ungeheurer Spontaneität. Ihr Erfahrungsschatz ist derart, dass sie echt helfen und begleiten kann. Sie ortet eine Unmenge von Konfliktpotenzial, spricht über gefährdete Menschen, die Arbeitswut in unserer Gesellschaft, die Abkehr von so notwendig Zwischenmenschlichem, von fehlender Zeit im gegenseitigen Umgang, von massiver Oberflächlichkeit, verletzendem Werten des andern, Wirksamkeit der Methadonprogramme, den eigenen Glauben. Vieles ist ungut und gerade deshalb soll man dem Gegenüber bewusst, offen begegnen, ihm Luft verschaffen.

Dass sich beim Verweilen im Wortreich lange Diskussionen ergaben, war mehr als verständlich. «Platzspitzbaby» – ein eigentlich unsinniger Titel – kann nicht einfach beiseite gelegt werden. Ein Übergang in den eigenen, gewohnten Alltag ist – folgerichtig – mit Nachdenken verbunden.