Sie war gerade mal vier Tage alt, als sie von ihren Eltern adoptiert wurde. Das war im April 1944 in Zürich. Wer ihre leiblichen Eltern sind, wollte sie nie wissen. «Ich hatte so gute und liebe Eltern, dass ich sie nicht verletzen wollte», sagt sie dazu. Auf dem Geburtsschein standen wohl die Namen der leiblichen Eltern, nachforschen aber wollte die heute 80-Jährige nicht.
Sie wusste auch länger nicht, dass sie adoptiert war. Bis zu einem prägenden Ereignis: Ihre Eltern führten ein Schirmgeschäft in Tann ZH. Eines Tages kam eine Frau in den Laden und sagte, man wisse ja nicht, was aus Brigitta werde. Ihre Mutter antwortete schlagfertig: «Das wissen Sie auch nicht bei Ihren Kindern.» Und klärte daraufhin die Adoptivtochter auf.
Das Schirmgeschäft hinterlässt übrigens heute noch Spuren: Brigitta Marthy geht nie ohne Knirps aus dem Haus. Ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint. Und damit sie den Schirm nie vergisst, ist in jeder Tasche einer verstaut.
1967 geheiratet
Nach der Schule absolvierte sie eine kaufmännische Lehre in Rüti ZH. Sie arbeitete dann noch kurz im Lehrbetrieb und wechselte anschliessend in ein Hotel in Flüeli-Ranft. «Eigentlich als Hotelsekretärin. Aber ich habe überall gearbeitet, wo es nötig war», sagt sie lachend.
Hier lernte sie Küchenchef Klaus Marthy kennen. «Nach dem Plan Gottes haben wir vier Jahre später, am 7. April 1967, geheiratet. Ich musste mich entscheiden: Klaus zu heiraten oder als Chefsekretärin im NUXO-Werk weiterzuarbeiten!» Der Antrag kam per Telefon, als sie bei NUXO in Kempraten arbeitete. Sie entschied sich für ihren Mann – und bereute den Entscheid nie.
Ein Jahr später wurde Sohn Stephan geboren. «Auch wenn ich Gott für unseren Sohn danke, war es für mich eine schmerzhafte Zeit, da er mit einem Geburtsfehler zur Welt kam.»
Engagierte Wirtin
Das Ehepaar pachtete fünf Jahre lang das Gasthaus Bahnhof in Weinfelden TG und kaufte anschliessend das Gasthaus Sternen in der unteren Pressi in Glarus. Dort wirteten die beiden von 1972 bis 2002. Ihre Spezialität war «99 Mal – die Qual der Wahl»: Als Gast musste man sich zwischen 99 verschiedenen Eingeklemmten entscheiden. Da Brigitta Marthy in den Jugendjahren Klavierspielen gelernt hatte, gab sie jeweils am Sonntagvormittag einige Stücke zum Besten. «Ich habe manche lustige oder ernste Episode in den Gästebüchern gelesen», erinnert sich die engagierte Wirtin.
Zu ihrem Leben gehörten damals auch Ausflüge zu Fuss oder mit dem Auto. Im Herbst 1988 entdeckte die Familie Jugoslawien auf einem kleinen Seeadlerboot. «Wir erlebten die Welt so schön mit Schwimmen im Meer, Sonnenuntergängen und jeden Abend in einem kleinen oder grossen Hafen. Es waren nur 20 bis 26 Personen an Bord, und wir haben es viele Jahre lang sehr genossen.»
Er blind, sie stumm
Doch das Schicksal schlug unerbittlich zu. Schon vor der Hochzeit wurde Klaus Marthy sieben Mal an den Augen operiert. Als seine Sehkraft immer schlechter wurde, mussten die beiden den «Sternen» in Glarus aufgeben. Fiel die Vollblutwirtin damals nicht in ein Loch? «Nein», sagt sie: «Obwohl die Zeit als Wirtin wunderschön gewesen ist, finde ich jede Zeit in meinem Leben sehr schön und wertvoll.» Sie mieteten eine Wohnung im Block an der Schiltstrasse, wo Brigitta Marthy heute noch lebt. 2007 wurde Klaus Marthy dann völlig blind. Sie arbeitete zunächst in der Zeitung «Südostschweiz», und durch Zufall wurde ihr auch eine Stelle als Kosmetik-Fachberaterin angeboten. Es ging um Gesichts- und Fusspflege sowie Sonnenkosmetik, hauptsächlich für Kinder. So konnte sie zu Hause arbeiten.
Doch damit nicht genug des Schicksals: «Das war sehr schön, aber dann hatte ich 2010 einen Schlaganfall und konnte nicht mehr reden. Und Klaus war blind. Aber wir haben das alles mit Gottes Hilfe geschafft.»
Engagement in der Kirche
Unglaublich, wie die beiden diese tragische Situation gemeistert haben! Das ging wohl wirklich nur mit einem starken Glauben an Gott, den beide schon immer hatten. Der Götti von Klaus Marthy war Pfarrer Dr. Richard Thalmann aus St. Gallen, der sie in Kempraten auch getraut hatte. Brigitta Marthy war in den Jugendjahren in der katholischen Kirche Hl. Dreifaltigkeit in Tann im Blauring und später bis zur Hochzeit als Führerin tätig.
In Glarus trat sie nach Aufgabe des Gasthauses Sternen dem Frauen- und Mütterverein der katholischen Kirche St. Fridolin bei, arbeitete im Vorstand mit und wurde schliesslich Vereinspräsidentin. Dieses Engagement führte auch dazu, dass sie Lektorin wurde – und heute noch ist. Zudem gibt es zwei Gruppen von «Kaffeefrauen», die zweimal im Monat nach der Messe zusammenkommen, am Sonntag Kaffee kochen und etwas Süsses zum Knabbern anbieten. Brigitta Marthy ist in ihrer Gruppe für die Dekoration zuständig.
«Ich helfe in der Kirche St. Fridolin Glarus mit, wenn ich gebraucht werde. Und ich finde das Engagement in der Kirche sehr sinnvoll, denn alles, was ich tue, tue ich mit ganzem Herzen und voller Liebe zum lieben Gott und seinen Menschen», erklärt sie.
Ausserdem gehört sie seit 50 Jahren dem Samariterverein Glarus-Riedern an. Und sie präsidiert die aphasie Selbsthilfegruppe Glarus. Dabei treffen sich Menschen mit Sprachstörungen nach einem Schlaganfall. Auch Brigitta Marthy konnte nach dem Anfall nicht mehr sprechen und musste es mit viel Logopädie wieder lernen. Heute singt sie in zwei Aphasikerchören mit – in St. Gallen und Chur. Früher war sie Mitglied eines Kirchenchors, dem auch ihr Vater angehörte.
Ein Segen
56 Jahre lebten Klaus Marthy und sie zusammen. «Wir hatten eine schöne gemeinsame Lebenszeit», meint unsere Gesprächspartnerin. Vor anderthalb Jahren starb er. Auch zwei ihrer drei Enkel sind gestorben. Also erneut schwere Schicksalsschläge. Dennoch sagt sie auf die Frage, ob sie rückblickend nochmals alles gleich machen würde: «Manches würde ich so lassen, wie es ist – manches würde ich anders machen. Aber zusammenfassend würde ich sagen, dass mein Leben ein Segen war. Gott allein bestimmt über mein Leben und mein Sterben.»