Diktatur, Ukraine, Russland, Europa, unsere Welt

Die Lesung mit Michail Schischkin und dessen Buch «Frieden oder Krieg – Russland und der Westen – eine Annäherung» entwickelte sich zu einer Begegnung mit viel Belastendem, mit Fakten, die man so nicht erwartet hätte. Schischkin ist in mutiger Art offen, sich deutlich gegen Putin und andere positionierend, wohl auch wissend, dass das mit massiven Unannehmlichkeiten verbunden ist. Seine Stimme muss gehört werden. In seinen Voten spürt man eine gewisse Resignation. Er liebt sein Heimatland, schätzt gar vieles, weiss genau, was verloren gegangen ist, was es zu erwecken und erhalten gilt.

 



Diktatur, Ukraine, Russland, Europa, unsere Welt

Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, schrieb Romane und Sachbücher und Vorlagen für Theateraufführungen. Er studierte Germanistik und Anglistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau. Er wurde mit drei bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet. Heute lebt er in der Schweiz. Seine Romane wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Er ist ein scharfer, stark beachteter Kritiker der heutigen politischen Führung geworden. Unter anderem merkt er an: «Russen und Ukrainer aufeinanderzuhetzen ist eine unverzeihliche Niedertracht.»
Er bezog sich bei seiner Lesung auf ein Buch, dessen Entstehung viele Jahre zurückliegt. «Frieden oder Krieg» entstand, als sich Schischkin und der deutsche Journalist Fritz Pleitgen kennen lernten. Das öffentliche Gespräch reichte nicht aus. Der Gedankenaustausch wurde privat weitergeführt. Jeder beschrieb sein Bild von Russland. Wie ist Russland zu begreifen? Wie sieht Russlands Zukunft aus, aus einer Vergangenheit heraus, die wir erschaffen haben?

Nach der eine runden Stunde umfassenden Lesung blieb Zeit für Fragen. Einleitend zeigte Schischkin beispielsweise klar auf, dass eine «Diktatur ohne den Kult des Diktators nicht existieren kann». Putin lebt und zelebriert diese Tatsache. Er ist – so wiederum Schischkin –«sakral, weil die Macht sakral ist». Der Autor befasst sich in nachvollziehbarer Form mit der Machtpyramide im heutigen Russland mit Putin an oberster Stelle, gefolgt von höheren Geheimdienstlern und der Militärführung. Es schliessen die «gezähmten Oligarchen», dann Parlamentarier und Beamte an. Angst ist das Bindemittel, das alles zusammenhält.
Schischkin schreibt von 2011 und der Weissen Revolution auf den Strassen und Plätzen von Moskau und den damit verbundenen Hoffnungen auf Änderungen – die sich nicht erfüllten. Er schreibt über die Krim und der historischen Gerechtigkeit, dass dies ein heiliges russisches Land sei.

Er erwähnt Russland und die Ukraine, Mischehen, zwei Brudervölker. Gemeinsame Geschichte ist mit gemeinsamer Kultur gleichzusetzen. Der Krieg hat begonnen, Russland begann ihn ohne wirkliches Erklären. Und später kamen die ersten plombierten Särge aus dem Dombass nach Russland zurück. Den Eltern wurde verboten, auf dem Grabstein den Ort des Todes anzugeben. «Eine unabhängige, erfolgreiche Ukraine wäre eine akute Gefährdung für die Machthaber in Moskau».
Viele Russen glauben, was via Medien verbreitet worden ist. Es sei die Nato, die die Ukraine für einen Krieg gegen Russland instrumentalisiert habe.
Und es geht um Macht, die es mit allen Mitteln zu erhalten gilt. Das führt zum Krieg, zur «fortwährenden Kulisse für den Alltag».

Auf diesen Krieg war der Westen nicht vorbereitet. Die «Ratlosigkeit der Politiker» – so Schischkin – «habe weh getan». Die Demokratien stufen die Herausforderungen aus Moskau falsch, oft unwirksam ein. Zur Strategie dieser neuen Kriegsführung gehört die Einschüchterung. Die «Freiheit des Wortes», so der Autor, « wird gnadenlos missbraucht». Eines der wichtigsten Ziele ist, den Westen zu spalten, die europäischen Länder gegeneinander auszuspielen. Der russische Generalstab löse seine Aufgaben – nämlich im Alltag gewaltige Spannungen zu erzeugen – mit spürbarem Erfolg.

Schischkin schliesst sein fundiertes und umfassendes Ausführen in den Kapiteln «Futur I» und «Futur II» unter anderem mit der Aussage: «Es gibt nur ein einziges Argument, warum die Demokratie in Russland siegen kann: Es geht nicht anders.»

Es ergaben sich am Ende dieser aussergewöhnlichen Veranstaltung ein reges Fragen und Antworten. Deren Inhalte war während der Lesung wohl auch gewachsen. Die Annektion der Krim, die Zukunft Europas, die russische Realität, die Entputisierung – die sich ergeben wird, die unbedingt umsetzbare Forderung nach baldigem Frieden, ein Märchen und anderes flossen ein.
Schischkin sprach vom knorrigen Baum, der sich dem Sturmwind entgegenstemmt und bricht und vom wiegenden Schilfrohr, das im gleichen Wind mitschwingt und stehen bleibt. Oft war Geschichtliches einbezogen. Es schlossen Hinweise zur Rolle der russisch-orthodoxen Kirche an. Welchen Einfluss Europa hat, haben muss, hat unter anderem mit aktiver Friedenspolitik zu tun. Schischkin sagt es deutlich: «Ich kann nur sprechen und schreiben. Russisch ist nicht die Sprache der Mörder, darf es auch nicht sein.» Er zeichnet ein bedrückendes Bild. Der Krieg wird von den Politikern gemacht – und dann kehren die Toten heim. Die Russen müssen Demokratie leben lernen. Dazu Schischkin: «Wir wollen alle eine Wende. Die Frage ist, wann und wie sich das entwickelt.