Fridolin Luchsinger, Vizepräsident der Kantonalkommission der Pro Infirmis St. Gallen/Appenzell/Glarus und Peter Grimm, Leiter der Fachstelle im Auftrag des Kantons zur Förderung der Selbstvertretung, waren hocherfreut, ein 120-köpfiges Publikum zu begrüssen. Darunter waren viele Teilnehmende mit einer Beeinträchtigung, die meisten selbstständig angereist, einige mit Betreuungsperson. Mit diesem Publikumsaufmarsch wurde ein grosses Anliegen bereits erfüllt, nämlich, dass Personen mit Einschränkungen ihre Meinungen und Anliegen selbst vertreten.
Das Selbstbestimmungs- und Teilhabegesetz
Nach einer Grussbotschaft der Departementsvorsteherin Marianne Lienhard sprach Lukas Beerli, Leiter der Fachstelle Behindertenfragen und Soziale Einrichtungen, über das Selbstbestimmungs- und Teilhabegesetz (SeTeG). 2014 hat die Schweiz die Behindertenrechtskonvention der UNO angenommen. Damit sind die Kantone verpflichtet, ein Gesetz zu erlassen, welches Menschen mit Behinderungen das Recht auf eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung garantiert. Die Kommission Gesundheit und Soziales des Landrates hat dieses Gesetz beraten, am Mittwoch, 5. Februar, ist es im Landrat traktandiert. Falls dieser das Gesetz überweist, kommt es am 4. Mai vor die Landsgemeinde. Das SeTeG soll den Betroffenen die aktive Mitgestaltung ihres Lebens ermöglichen. Selbstbestimmung bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die Möglichkeit haben, Entscheidungen für ihr eigenes Leben zu treffen und ihre Wünsche und Bedürfnisse zu vertreten.
Gespräch mit einem Selbstvertreter
Hanspeter Bodmer hat seine Schulzeit in heilpädagogischen Schulen absolviert. Am Ende der Schulzeit konnte er nicht lesen und schreiben. Er machte eine Anlehre als Bäcker-Konditor. Bei der Arbeitssuche erlebte er immer wieder, dass man ihm als Absolvent einer heilpädagogischen Schule erst einmal wenig Kompetenzen zutraut. Ein wichtiges Erlebnis war für ihn, dass er bei einem anderen Arbeitgeber feststellte, dass bei einem Gerät, dass dieser Arbeitgeber herstellte, etwas nicht stimmte. Das glaubte erst einmal niemand. Er blieb jedoch bei seiner Meinung und fand schliesslich Gehör beim Firmendirektor, der zuhörte und sah, dass Hanspeter Bodmer recht hatte. Der Fehler wurde behoben. «Damit konnte die Firma 250 000 Franken sparen», erzählt Bodmer, was mit grossem Applaus des Publikums in der Markthalle quittiert wurde.
Selbstbestimmung
Die Sichtweise der Forschung auf das Thema Selbstbestimmung war Thema des Referates von Prof. Dr. Daniel Oberholzer von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Selbstbestimmung sei nicht nur ein rechtlicher Anspruch, sondern auch ein praktisches Ziel in der Lebensgestaltung von Menschen mit Beeinträchtigungen. «Wir haben heute noch grösstenteils ein Versorgungssystem», sagte Oberholzer: «Man stellt fest, welche Defizite ein Mensch hat und weist ihn aufgrund dessen einer Institution zu, welche seine Bedürfnisse am besten versorgen kann.» Dort kann sich ein Bewohner dann mehr oder weniger wohlfühlen, er hat aber keine Auswahl gehabt. Doch Selbstbestimmung heisst, dass Menschen mit Assistenzbedarf genauso frei wählen möchten, wie alle anderen auch, zum Beispiel, wie und wo sie wohnen. Hier wie dort sind die Fragen: Welche Angebote gibt es? Was kann ich mir leisten? Für die Organisationen und Einrichtungen bedeutet das, klare und verständliche Angebote herauszubilden, die ein Wählen ermöglichen und attraktiv machen. Dem Kanton fiele dann die Aufgabe zu, für eine nachfrageorientierte Angebotsvielfalt zu sorgen.
Im praktischen Leben
Was das bedeutet, kam beim anschliessenden Apéro zur Sprache. Claudio Maggiacomo machte trotz einer rechtsseitigen Lähmung eine Anlehre, schloss «mit Bravour» ab und arbeitete 24 Jahre lang als Magaziner bei der Migros. Er verlor die Stelle, als es ihm nach einem Sturz schlechter ging. Er wohnte mehrere Jahre im glarnersteg in Schwanden. Als er eine Erbschaft machte, entschied er sich, eine Wohnung zu kaufen und wagte den Schritt in ein Leben mit deutlich weniger Betreuung. Er trägt nun viel mehr Verantwortung für die Gestaltung seines Lebens. «Ich turne jeden Tag und habe mir selbst verschiedene Tätigkeiten organisiert. Ich bin den ganzen Tag beschäftigt und kann gut leben.»
Eine weitere Geschichte erzählte Stefan Aschwanden. Er lebte im Fridlihuus Glarus. Nun hat er, nach eingehender Prüfung, von der IV einen Assistenzbedarf bewilligt bekommen. «Ich habe vier Angestellte, die ich bezahlen kann, die ich selbst ausgewählt habe und für die ich als Arbeitgeber verantwortlich bin.» Er ist also selbst verantwortlich dafür, dass er alle notwendige Pflege und Hilfsdienstleistungen erhält.
Am Ende der Veranstaltung bleibt der Eindruck zurück, dass viele Menschen mit einer Beeinträchtigung bereit sind, mehr Verantwortung für ihr Leben zu tragen, dass sie aber auch darauf angewiesen sind, dass ihnen vom Gemeinwesen genügend Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.