«Sich lichtende Nebel» – Christian Haller las im Wortreich Glarus

In der stadtglarnerischen Kulturbuchhandlung Wortreich las Christian Haller unlängst aus seinem neuesten Werk. Der Autor wurde 1943 in Brugg geboren. Er studierte einst Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler Instituts nahe bei Zürich an. Unter anderem wurde er im Jahre 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis und ein Jahr später mit dem Schillerpreis ausgezeichnet. Er lebt im aargauischen Laufenburg. Seit den 1980er-Jahren schreibt er Bühnenstücke, Romane und Erzählungen. Er wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2023 geehrt.



Christa Pellicciotta im Gespräch mit dem Autor Christian Haller (Bilder: p.meier)
Christa Pellicciotta im Gespräch mit dem Autor Christian Haller (Bilder: p.meier)

Es bedeutet für die Kulturbuchhandlung eine grosse Ehre, dass Christian Haller sein neuestes Buch vorstellte. Wie gewohnt begrüsste Christa Pellicciotta und wies auf Kommendes hin. Die Lektüre ist fordernd, ihrer Thematik wegen sehr ungewohnt.
Haller schildert in sehr eleganter Art, verwebt Geschehnisse gekonnt. Nach einem plausiblen Alltagsgeschehen wird man in eine Welt entführt, deren Inhalte schwer erfassbar sind, nicht selten Unverständnis wecken.

Es sind wenige Personen, die alles prägen. Da ist der Witwer Helstedt, in Kopenhagen lebend, der an einem kühlen und ungastlichen Abend im Frühjahr 1925 von einem Besuch bei seinem Freund Sörensen auf dem Heimweg ist. Er wird von einem jungen Deutschen, einem Privatdozenten, der als Gast im Kopenhagener Physik-Institut weilt, beobachtet. Der Deutsche ist nach stundenlangen Diskussionen um das Atommodell seines Mentors erschöpft. Ihn lassen Gedanken um dies Thematik nicht los, in seinem Gehirn kreisen Deutungen, Fragen, Erkenntnisse noch immer weiter. Dies führt dazu, dass ein Alltagsereignis plötzlich zentrale Bedeutung erhält. Der junge Wissenschaftler hat sich auf einer Bank hinter dem Institut niedergelassen, als Helstedt im Licht einer Strassenlaterne kurz auftaucht und während einer kurzen Wegstrecke das Dunkel verlassen hat. Der Deutsche nimmt etwas nicht so wahr, wie es eigentlich immer der Fall ist. In ihm wachsen Fragen, deren Erklärung zu einem völlig neuen Weltbild, der Quantenmechanik, führen.
Helstedt ahnt nicht, was da in Gang gesetzt worden ist. Er lebt seine Rolle, trauert um seine verstorbene Frau, beginnt, Gedanken niederzuschreiben, weilt bei seinem Freund, streitet, diskutiert, versöhnt sich. Er lebt in seinem Alltag, den er neu zu strukturieren gedenkt.

Haller nimmt Gegensätzliches auf, gliedert die Geschehnisse geschickt, dies in eleganter, gut verständlicher und nachvollziehbarer Art. Zwei gar verschiedene Welten sind dargestellt, in kurzen Kapiteln. Es sind Stationen, die Spannung wecken. Helstedts Gespräche mit seinem Freund, der gesundheitsbedingte Aufenthalt des Wissenschaftlers auf Helgoland, Gespräche, Gedanken, Träume, Verarbeiten der Trauer, wahre Fluten von schriftlich Festgehaltenem, Weiterspinnen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, zahllose Gespräche, aufkommende und durchlebte Gefühle, Alltage des Rentners und des Wissenschaftlers –Haller baut geschickt, kenntnisreich auf. Das Einfühlen in Geschildertes ist recht fordernd.

Zitate

So ist an einer Stelle aus der Perspektive von Helstedt nachzulesen: «Doch was immer ich ansah, ob Tisch, Boden Wände, aber auch die Äste und Blätter in den Scheiben der Balkontür: alles war vollständig durchsichtig oder auch leer. Ein lichtes, helles Blau strahlte von einer Art Glutfunken, aus denen die Gegenstände bestanden, in verschiedener Dichte und Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Doch diese Glutfunken waren keine festen Körper oder Kügelchen, sie waren … bewegte Zustände von Energie.»
Der Wissenschaftler, zugleich Beobachter, protokolliert sein Erfahren anderswo mit: «Sie (vage Überlegungen) waren wie ein Dickicht,, das mehr versperrte als zugänglich machte».
Er versuchte damals (im Sommer 1924) die Formeln für die Intensität der Linien im Wasserstoffspektrum zu finden, doch verlor er sich so sehr in einen Formelkram, dass er abbrechen und nach einer Anordnung für seine Berechnungen hatte suchen müssen.
Helstedt wiederum erlebt: «Der Lindenbaum, der Geräteschuppen, die gegenüberliegende Hauswand, der Garten, begannen durchsichtig zu werden, sich in bläulich schimmernde Felder zu verwandeln, in denen sich die Glutfunken unterschiedlich schnell bewegten, extrem langsam in festen Körper, fliessend in Organismen. Doch anders als am Morgen nach dem Besuch bei Sörensen nahm er sich selbst in diesen Feldern als einen bläulichen Umriss wahr, in dem die Glutfunken wechselwirkten und sich gegenseitig durchdrangen.»

Fragen, Diskussion 

Hellers Lesung wurde von Fragen unterbrochen, er antwortete stets ausführlich genug, um mit buchbezogen Wesentlichem der Quantenphysik etwas vertrauter zu werden – obwohl sich vielem dem Verständnis entzieht, das wir haben. Heller zeigte auf, dass sich diese Dimensionen unserer Wahrnehmung entziehen.
Zu seinem Arbeiten führt der Autor aus, dass er den Buchinhalt nicht geplant habe, der Stoff finde ihn, wolle gemacht sein. Er hat sich mit der Suche nach dem Licht intensiv auseinandergesetzt. Für ihn ist nur das vermittelbar, was er erlebt hat. Die im Buch vorkommenden Menschen sind seine Geschöpfe. Er deutete an, dass die Quantenphysik ein neues Weltbild geschaffen habe.
Das Werden eines Romans bedürfe einer Architektur. Stets sei die Arbeit an der Rohfassung eine immens fordernde Aufgabe. Er kam auf abgelehnte Projekte zu reden, damit auf Misserfolge, die es zu bewältigen gelte. Ablehnen beschere aber auch Kraft.
Bereitwillig beantwortete er Fragen von Christa Pellicciotta und aus dem Publikum – das sich erfreulich zahlreich eingefunden hatte.