Vals, Glarus und wilde Geschichten

In «Nachtschatten», Melchior Werdenbergs neuestem Buch, sind 22 Geschichten enthalten, die für jene gedacht sind, die Ungewöhnliches, Wildheiten, Abkehr von Gewohntem und Unaufgeregtem lieben. Sie kommen auf ihre Rechnung.

Werdenberg entführt in zuweilen Fremdes, Befremdendes. Er tut das mit spürbarer Leidenschaft, schriftstellerischem Geschick, präzisem Nachzeichnen von Schicksalen.

 



Peter Schmid
Peter Schmid

Er gestattet einfühlsames Erleben, weckt Spannung, blendet allzu Gewöhnliches, Banales aus. Mit ihm waren Gäste aus Vals angereist. Einige widmeten sich seinem Schildern, andere taten es mit Musik und Hinterfragen. Es war eine illustre Runde, die sich auf der wohl kleinsten Bühne in der kleinsten Hauptstadt zusammengefunden hatte.

Eine ganz besondere Lesung war unlängst in der Kulturbuchhandlung Wortreich im Abläsch, Glarus, angeboten. Geschäftsinhaberin Christa Pellicciotta begrüsste, wies auf kommende Anlässe hin, und dankte dem Leiter der zürcherischen Elster Verlagsbuchhandlung fürs kulinarische Verwöhnen am Schluss des anregenden, spannenden Begegnens.

In enorm virtuoser Weise tat sich der Akkordeonist Goran Smitran hervor. Er gestaltete bemerkenswert einfühlend, kunstreich, setzte brillante Akzente als willkommene Pausen zwischen den verschiedenen Geschichten.

Hinter Melchior Werdenberg und dem im Sernftal aufgewachsenen Hans Baumgartner steckt die gleiche Person. Auf der einen Seite ist es Werdenberg mit dem literarischen Schaffen, dann ist es der in Zürich tätige Jurist Baumgartner, der Erfahrungen aus Beruflichem in Geschichten zuweilen einfliessen lässt. Er hatte liebe Gäste aus Vals nach Glarus eingeladen, damit seine Verbundenheit zu einem Bergtal aufgezeigt, das gegenwärtig einen Bekanntheitsgrad geniesst, den viele so nicht willkommen heissen.

Der Valser Peter Schmid verstand es, Verwandtschaften zwischen seinem Herkunftsort und Glarus auf gar interessante, spannende Weise zu skizzieren. Er wies auf Besiedlung, Geschichtliches und Namen hin. Stoffel, Vieli und Fischli wurden genannt, zugeordnet.

Schmid machte das deutlich: Valser hätten Stoffel-Blut, jeder sei aber auch ein wenig mit den Fischlis verwandt. Berglerblut durchströme Valser und Glarner gleichermassen, das führe unweigerlich zu einer Seelenverwandtschaft. Und dann seien nicht wenige Sernftaler niedergelassene Valser, damit könnte Werdenberg den Stoffels ein klein wenig zugeordnet werden. Schmid argumentierte auf verblüffende Weise, verknüpfte das eine mit dem anderen, bezog beide Dialekte mit ihrer alpinen Herkunft grad mit ein. Das kam so leicht einher. Hurtig erfolgte der Wechsel zu Aktuellem in Vals, zu Zumthor, der Therme, dem Stoffel-Turm, dem lebendigen Schaffen, das wohl Herausforderungen brauche, dem Planen von «Chruut und Rüebli», der Spaltung von Welt und Volk. Schmid wandte sich an Hans, gleichzeitig Melchior, an einen Freund, der mit seinen Geschichten niemanden loslasse. Schmid deutete auf diese «literarischen, gut mundenden Pralinen» mit viel Charme hin.

Werdenberg stellte eine der Geschichten aus «Nachtschatten» hin, zeigte auf, weshalb ein pensionierter Polizeibeamter nach persönlichem Schutz sucht, sich unbedarft anstellt, Denkmuster in sich hat, die oft anzutreffen sind. Adrian Vieli entführte mit der Lesung von «Love Tracker» in die Welt des Fremdgehens, der Erotik, dem hemmungslosen Lieben der anderen Art von Lebensmanagement. Das war ein ganz neuer Werdenberg, der sich vernehmen liess.

Als unerwarteter Gast meldete sich Andrea Loretz Oesch. Sie hatte mit viel Liebe zum Valser Dialekt und der Wahrung von stillen Kostbarkeiten dieser malerischen Erzählform das Kapitel «Die Leiter zum Himmel» in ihre heimische Sprache übertragen. Es kommen Geschehnisse aus der Zeit um 1628 auf. Es herrschte Hunger, der Schwarze Tod raffte viele dahin. Viehwirtschaft und Säumerei liefen nicht wie gewohnt. Davon wusste Pfarrer Petrus. Auf drängende Fragen fand er auch im Gebet keine Antwort, keinen Weg zu Besserem. Die Pest hatte verheerende Folgen, spaltete das Dorf, die einen wollten sich strikte abgrenzen, andere schickten ihre Kinder in die Fremde, um so überleben zu können. Remus, ein ehemaliger Valser, Rückkehrer, schlitzohrig, sehr berechnend planend, taucht auf. Er will das gesamte Dorf aufkaufen, findet anfänglich in seinem Schulkollegen Romulus einen vordergründig Gleichgesinnten. Remus wendet sich mit Visionärem an seine Valser. Zu Ehren Gottes soll ein Turm gebaut werden, so hoch wie das Horn in Zerfreila. Dann sei die Pest besiegt, die Pässe geräumt. Nun sei die eigene Leistung gefragt. Die Bauerei beginnt, über die Fronarbeit führt Remus genauestens Buch. Der Kontrahent Romulus tut es ihm ähnlich. Es kommt, wie es kommen muss: Der Turm kracht zusammen. Die beiden Kontrahenten sind unter den Steinmassen begraben.

Unwillkürlich fühlte man sich in die Neuzeit von Vals versetzt. Wie politisch ist da Werdenbergs Aussage. Diplomatisch äussert er sich zu abschliessenden Fragen von Peter Schmid. Der Dichter sei Anwalt in eigener Sache, es handle sich um ein literarisches Spiel zwischen Fiktion und Realität. Darüber und von anderem wurde in der «Verweilstunde» lebhaft geplaudert.