Es braucht eine gehörige Portion Kreativität, Einfühlungsvermögen, historische Kenntnisse, hohe musikalische Fertigkeit und Neugierde, um sich mit Tieren, Niederschriften und Kompositionen aus dem Mittelalter zu befassen und alles zu einer Aufführung zu fügen, die attraktiv genug ist, um bei potenziellen Besucherinnen und Besuchern Vorfreude auf absolut Ungewohntes zu wecken. Wer will sich beispielsweise mit der Kunst des Jagens, grossen Katzen, allerhand umherschwirrenden Vögeln, Skorpionen, Vipern oder fliegenden und anderen Mäusen befassen?
Es sei vorweggenommen: Niemand hatte sein Kommen zu bereuen. Die projizierten farbigen Bilder mit oft üppigster, inhaltlich beinahe überquellender Fülle, dann wieder in beeindruckender Schlichtheit und Ruhe, das wunderbare Schriftbild, die aussagestarke Vielfalt und der Kunstsinn der damals Tätigen und der musikalische Reichtum, der mit Gesang und Musik ausgedrückt war, bewegte. Man war für eine beinahe zu kurze Zeitspanne in einer Welt gefangen, deren Inhalte und Ereignisse zeitlich gesehen so weit weg sind, die aber gerade deshalb unsere Sinne umfassend ansprechen, Verbindungen zu bauen vermögen.
Das Ensemble Dragma – die Bezeichnung stammt aus dem hohen Mittelalter und bedeutete ein sehr wandelbares Notenzeichen mit zahlreichen rhythmischen Bedeutungen – widmet sich in umfassender Art der Musik aus dieser Epoche. Ihm gehören Agnieszka Budzinska-Bennett (Gesang und Harfe); Jane Achtman, Vielle und Marc Lewon (Laute, Vielle und Gesang) an. Mit spürbarer Ernsthaftigkeit, feinsinnigem Humor, deklamatorischem Geschick, ungemein grosser spieltechnischer Reife und verinnerlichtem Kunstsinn wurde angeboten.
Man vernahm Texte, die man so gewiss kaum einmal gehört hatte, freute sich über die reiche, farbenprächtige Bilderwelt und staunte über die wandlungsstarke Kunst der Sängerin, folgte der beeindruckenden gegenseitigen Abgestimmtheit. Man sass inmitten dieser im Programm angekündigten Biester (Song of Beasts), die so gar nichts Furchteinflössendes offenbarten, einfach da waren, sich rumtummelten, auf der Jagd waren, als begehrte Speise dienten oder Geheimnisse in sich bargen, die nicht zu entschlüsseln waren. Man sah sich mit Angst, Neugierde, Spieltrieben, Gier, Angriffsgeist, Müdigkeit, lustvollem Rumfliegen, protzigem Spazieren konfrontiert. Bereitwillig tauchte man in diese Welt ein, die in sechs Blöcke mit je einer Tiergattung gegliedert war..
Die instrumentale Begleitung und der Gesang waren wechselreich, innig, leidenschaftlich, zuweilen sehr lebhaft, ja dramatisch, dann wieder riesig ruhig, verträumt, schwärmerisch. Die Ausgestaltung verlangte einiges ab, war fordernd. Es beeindruckte, mit welch grosser Ruhe und gestalterischer Reife alles ausgedrückt wurde. Es ist keine Musik der lauten, einnehmenden oder gar erdrückenden Töne. Es ist eine Klangwelt mit einem literarischen Inhalt, der durchaus Charme und immense Vielfalt aufweist, beseelt und innig daherkommt, zum genüsslichen Mitvollziehen und Meditieren einlädt.
Die Balladen und Madrigale stammen von Komponisten, deren Namen nicht stark bekannt sind. Im Programm sind beispielsweise ein Francesco Landini (zirka 1325–1397), Paolo da Firenze (zirka 1355–1436), Johannes Ciconia (zirka 1370–1412), Giovanni da Firenze und Guillaume de Machaut (zirka 1300–1377) erwähnt.
Und so sei zum Abschluss von einer Viper berichtet: «Meine Dame hütet in ihrem Herzen eine Schlange, die mit ihrem Schwanz ihre Ohren verschliesst, sodass die meine Klagen nicht hört; die Schlange aber hört stets zu und merkt sie sich. Und im Mund meiner Dame ist ein Skorpion, der nie schläft und mein Herz mit seinem Stich zu Tode verwundet. Und in ihrem süssen Blick wohnt ein Basilisk. Die drei und sie – möge Gott sie beschützen – haben mich getötet …»