Wäre die Schweizer Armee für einen Ernstfall gerüstet?

Das Interview mit dem Chef der Schweizer Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, führte unser freier Mitarbeiter Hans Speck im Anschluss an den Besuch vom 5. Juli im Hotel Glarnerhof in Glarus.



6 Fragen an den Chef der Schweizer Armee Korpskommandant Thomas Süssli (Bilder: hasp)
6 Fragen an den Chef der Schweizer Armee Korpskommandant Thomas Süssli (Bilder: hasp)

Herr Korpskommandant, Sie weilen nicht zum ersten Mal im Kanton Glarus. Sie waren Ehrengast an der Landsgemeinde, Näfelser Fahrt, bei der General-Bachmann-Stiftung und beim Glarner Kantonal Schützenverband am «Tag der Ehrungen». Nun meine erste der insgesamt sechs Fragen:

Was haben Sie für eine Beziehung zum Glarnerland?

Einerseits versuche ich natürlich, in alle Kantone zu gehen und möglichst viel Zeit aufzubringen, präsent zu sein und über die Schweizer Armee zu berichten und Fragen zu beantworten. Es gibt aber noch etwas Spezielles: Das Näfelser Pfadiheim – ich war in der Pfadi mit Namen Suri. Oberhalb von Näfels haben wir uns abgeseilt. Doch oh Schreck: Das Seil war zu kurz. Meine Kollegen versuchten mich, hochzuziehen. 12 Meter über dem Boden blieb ich hängen. Mit hin- und herpendeln erreichte ich einen Felsvorsprung. Ein Erlebnis, das mich stets an das Glarnerland erinnert.

Wie steht es mit der Einsatzbereitschaft der Schweizer Armee und wäre sie bei einem Angriff wie im Falle der Ukraine genügend ausgerüstet und bewaffnet?

Die Antwort ist: Die Durchhaltefähigkeit der Schweizer Armee in einer Verteidigung wie die Ukraine ist zeitlich begrenzt. Das liegt nicht am Willen unserer Miliz, im Gegenteil. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Miliz für unser Land kämpfen würde. Der Grund ist, dass wir mit der Armee 21 die Verteidigung auf die Kompetenzen reduziert haben. Wir haben damals von 6 bis 8 Brigaden gesprochen, heute haben wir nur noch 2 bis Brigaden. Diese können nicht einmal vollständig ausgerüstet werden. Die Herausforderung ist, dass man es nicht merkt in unserem Milizsystem. Die Truppen, die über das Jahr verteilt in den Dienst kommen, müssen zum Teil immer mit dem gleichen Material trainieren. Das kommt gar nicht an die Oberfläche. Eine der Prioritäten ist, vorerst die Armee oder möglichst viel von der Armee für die Verteidigung auszurüsten. Der zweite Grund ist die Munitions-Bevorratung. Im Zusatzbericht zum Sicherheitsbericht steht: «Das Bevorratung ist auf die Pan der Ausbildung orientiert». Wenn wir schauen, wieviel Munition pro Tag und pro Woche in der Ukraine verschossen wird, dann kann man sich vorstellen, wenn man nur für die Ausbildung Munition hat, dass es nicht sehr lange reichen würden. Da sind so die limitierenden Faktoren.

Wo sehen Sie die Priorität bei der Beschaffung der Ausrüstung und Waffen?

Ich rede häufig immer von der Triple-A-Armee: AAA. Das sind die wichtigen drei A. Dort liegen die Prioritäten. Es braucht alle drei A, sonst sind wir nicht verteidigungsbereit.

Das erste A ist personell alimentiert.
Wir müssen die Abgänge reduzieren, zum Sicherstellen, dass wir den gesetzlichen Bestand erreichen, nämlich 100 000 im Soll und 140 000 im Effektivbestand. Aus der Sicht der Armee braucht das eine Änderung im Dienstpflichtsystem, dass wir vollständig alimentierenkönnen.

Das zweite A ist Ausrüstung.
Den Bedarf für Verteidigungsfähigkeit wieder vollständig zu erreichen, liegt bei 40 bis 50 Milliarden Franken. Man sieht es jetzt schon, mit der Erhöhung, die man wieder verschoben hat von 2030 auf 2035, sind das schon wieder 10 Milliarden, wo man weniger hat. Das heisst, es würde bis Ende der 30er-Jahre dauern, bis dann die 50 Milliarden auch vorhanden sind. Das heisst, die Ausrüstung wird sich weiter verzögern und über die Zeit verteilen.

Das dritte A ist die Ausbildung.
Wir bilden gut aus. Wir bilden 20 000 Rekruten in nur 18 Wochen aus. Das ist unglaublich. Was ein Miliz-Infanteriezug nach 17 Wochen leistet, ist im internationalen Vergleich unglaublich. Damit meine ich das Niveau der Ausbildung. Selbstverständlich müsste man für einen Kampfeinsatz dann noch einmal eine Phase haben. Was uns aber fehlt für die Ausbildung sind Übungsplätze für den mechanisierten Kampf (Kampf mit Führung und Bewegung) und zwar nicht auf vorgängigem Terrain, sondern im freien Terrain in der freien Führung. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, also mit EKF (elektronische Kriegsführung), mit Luftaufklärungsmitteln auf dem ganzen System – das können wir in der Schweiz nicht üben – das ist eine Bedingung. Sonst wären unsere Kampftruppen einem Gegner mit Kampferfahrung immer unterlegen, wenn wir das nicht wenigsten trainieren können. Zweitens, was wir brauchen, ist Ausbildungsgelände für den Kampf im Alpengebiet. Unsere Schweiz ist überbaut. Unsere Infanterie kann in einem angemessenen, überbauten Gebiet nirgendwo trainieren. Das sind die drei Prioritäten: Führung Ausrüstung und Ausbildung.

Der «European Sky Shield» soll im Himmel über Europa Raketen abwehren. Nun soll auch die Schweiz der Initiative beitreten.
Sehen Sie eine Gefahr für die Demokratie und Unabhängigkeit der Schweiz?

Aus militärischer Beurteilung kann ich sagen, wenn man die Europakarte nimmt, dann ist die Schweiz unser Luftraum. Jede Massnahme, wo unsere Sichtweite erhöht, gibt uns auch mehr Sicherheit und Handlungsspielraum und erhöht, militärisch gesprochen, die Sicherheit. Das wir nur im Raum Schweiz wirken, ist klar, jede Erweiterung vom Sichtraum erhöht die Sicherheit militärisch.

Aus den Erfahrungen im Ukraine-Krieg stellt man immer wieder fest, dass bewaffnete Drohnen beidseitig sehr effektiv und erfolgreich eingesetzt werden.
Sind Drohnen auch ein Thema bei der Schweizer Armee?

Der Ukraine-Krieg hat einmal mehr gezeigt, und das ist nicht neu – man hat es auch in Syrien und in Bergkarabach gesehen – dass Drohnen eine exponentiell entwickelte Technologie ist. Die Drohne hat den Vorteil, dass sie günstig bei der Anschaffung ist. Sie sind zwar nicht so präzis wie eine gesteuerte Artilleriegranate, kosten aber einen Bruchteil davon. Drohnen können heute in einer Stunde über 100 Kilometer zurücklegen. Es gibt jetzt neue bewaffnete Drohnen mit 7 Kilogramm Sprengkraft. Wenn die Entwicklung so weiter geht, ist das die Zukunft für die kinetische Wirkung auf eine grosse Reichweite. Ein Vorteil, dass gilt auch für die Schweiz, ist der Mensch, der entscheidet, ob sie eingesetzt wird oder nicht. Die Schweiz hat mehrere Vorteile, einerseits müssen wir im eigenen Gelände kämpfen. Die Drohnen machen weniger Kollateralschäden als andere Wirkmittel. Die Schweiz ist privilegiert in der Wirtschaft, wo sehr viel Drohnentechnologie vorhanden ist.
Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, wir müssen uns mit diesem Thema auseinandersetzen und die Chancen dieser Technologie nutzen.

Wie schützt sich die Schweizer Armee gegen Cyber-Angriffe?

Sehr umfassend! Die Schweiz baut eine eigene Informatik-Infrastruktur auf, wo komplett vom Internet abgetrennt ist. Alles wo mit dem Internet verbunden ist, da kann man davon ausgehen, ist kompromittiert. Die Umgebung ist robust, hat zwei vollgeschützte Rechencenter, wo wir auch gegen chinesische Wirkung geschützt sind. Dieses Rechencenter hat ein hoher Sicherheitsgrad in der Verschlüsselung. Es ist ein Netzwerk, wo über die ganze Schweiz geht. Es ist das einzige stromunabhängige Computernetz in der Schweiz, und auf dieser Basis kann sich die Truppe nachher mit Richtstrahl oder auch am Boden integrieren. Zum Cyberschutz: Die Armee schützt sich mit eigenen Mitteln. Und aus diesem Schutz heraus kann die Armee offensive Aktionen im Cyberraum vornehmen. 

Wir bedanken uns beim Chef der Schweizer Armee Korpskommandant Thomas Süssli für das uns gewährte Interview und die offene und informative Beantwortung unserer Fragen.