„Wir sind füreinander verantwortlich“

Das Theater Glarus spielt bis am 17. November „Ein Inspektor kommt“. Anhand eines Einzelschicksals verdeutlicht der Autor John B. Priestley die Konsequenzen individueller Handlungen für die Gesellschaft.



Die Wahrheit kommt ans Licht: Der Inspektor befragt Daniel von Wyl und Christine Blumer (Bild: jhuber)
Die Wahrheit kommt ans Licht: Der Inspektor befragt Daniel von Wyl und Christine Blumer (Bild: jhuber)

Die Industriellenfamilie Blumer feiert im Jahr 1912 die Verlobung ihrer einzigen Tochter mit dem Sohn des Geschäftskonkurrenten von Wyl. In dieses feierliche Familienidyll dringt unvermittelt ein Inspektor und verkündet den Selbstmord einer jungen Frau. Durch seine ungewöhnlichen Verhörmethoden deckt Inspektor Good nach und nach die Verstrickungen der einzelnen Familienmitglieder mit dem Schicksal der Eva Schmied auf. Jede Person brachte sie mit ihren Handlungen näher zu ihrem Freitod.

Sozialdarwinismus und Klassenkampf


Der sozialangehauchte Autor versuchte in diesem Stück aufzuzeichnen, dass in einer Gesellschaft jedes Individuum Einfluss auf seine Mitmenschen und deren Schicksal hat. Er kontrastiert somit die Aussage des Vaters „Jeder ist für sich selber verantwortlich“ mit dem moralischen Satz „ Wir sind füreinander verantwortlich“. Der Kapitalist Robert Blumer ist somit auch Stellvertreter für die anfangs des 20. Jahrhunderts aufkommende Ansicht des Sozialdarwinismus, der die Evolutionslehre – der Stärkste überlebt – auf das Zusammenleben in einer menschlichen Gesellschaft überträgt. Eine Theorie die unter anderem zu den beiden Jahrhundertkatastrophen der Weltkriege und den Holocaust geführt hat.

Daneben schildert Priestley in der Familie Blumer die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden viktorianischen Englands, welches die arbeitende Bevölkerung als Menschen zweiter Klasse abstempelt. Diese Haltung war Weg begleitend für die Herausbildung des Kapitalismus und Sozialismus und führte zu Klassenkämpfen und Revolten. Ausserdem deutet der Autor die moralische Zweideutigkeit dieser Zeit an. Ein Verhältnis ist für einen reichen jungen Mann nichts weiter als ein unbedeutender Ausrutscher, während die unterpriviligierte Frau ihre Ehre und Tragbarkeit in der Gesellschaft verliert. Obwohl Eva Schmied immer nur das richtige Tat, sinkt sie durch die Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit der Familie Blumer immer weiter ins soziale Elend, bis ihr scheinbar nur ein Ausweg bleibt.

Dialoglastiges Stück mit Längen


Typisch für ein analytisches Drama sind alle relevanten Handlungen bereits vor dem Beginn des Stück geschehen. Der Inspektor deckt die Geschichte der Eva Schmied mit Hilfe der Aussagen der Familienmitglieder langsam auf. Zusammen mit den vielen moralischen Aussagen macht die dialoglastige Struktur das Stück sehr statisch. Unterstrichen wird dies zudem durch das Allgemeine der Charaktere. Die Personen sind keine richtigen Menschen sondern sind Stellvertreter für alle Angehörigen dieser Gesellschaftsschicht und vielmehr Rollen als Persönlichkeiten.

Dies macht „Ein Inspektor kommt“ zu einem sehr schwierig zu spielenden Stück. Und es ist mutig vom Theater Glarus, sich an ein Stück zu wagen, das auf den ersten Blick simpel aufgebaut ist aber im Hintergrund und in den Details viele dramaturgische Hürden bereithält. Es ist den Laienschauspieler deshalb nicht gross anzukreiden, wenn das Stück vor allem im ersten Teil eine oder zwei Längen aufweist. Ausserdem fällt es dem Zuschauer teilweise schwer sich in die Personen hineinzufühlen. Nach dem spektakulären und farbenfrohen „Quatemberkinder“ wagte sich das Theater Glarus an ein ruhiges und schlichtes Stück, das die Schauspieler ebenso mit viel Leidenschaft und Engagement auf die Bühne bringen.