Wir sind Landsgemeinde – Als die Jungen die Alten überzeugten und das Stimmrechtsalter 16 erkämpften

Aus der Geschichte kann man lernen. Die Staatskanzlei blickt in loser Reihenfolge zurück auf bemerkenswerte Entscheide der Glarner Landsgemeinde: 2007 schreibt die Landsgemeinde ein weiteres Kapitel in der Geschichte von pionierhaften Entscheiden. Auch 13 Jahre später ist Glarus der einzige Kanton mit Stimmrechtsalter 16.



Foto: Michael Pesaballe
Foto: Michael Pesaballe

Es regnete aus Kübeln, an diesem Landsgemeindesonntag des 6. Mai 2007. Auf dem Weg vom Bahnhof in den Landsgemeindering wurde der 20-jährige Oberurner Mitinitiant Michael Pesaballe von einem Kamerateam des Schweizer Fernsehens begleitet. Pesaballe hatte seine Maturaarbeit dem Stimmrechtsalter 16 gewidmet und später mit den Jungsozialisten zu einem politischen Vorstoss (Memorialsantrag) zuhanden der Landsgemeinde geschmiedet. Zunächst wurde das Anliegen belächelt. Im Landrat hatte es keine Chance. Doch die Öffentlichkeit fragte sich bald, ob die Glarner auch dieses Jahr wieder «einen raushauen» würden; beseelt noch, von der Wucht ihrer epochalen Gemeindestrukturreform zu nur noch drei Einheitsgemeinden ein Jahr zuvor. Für manche überraschend, unterstützte der Regierungsrat das Anliegen der Jungen, indem er als Gegenvorschlag einen Kompromiss anbot: Ja zum aktiven Stimm- und Wahlrecht (bei einer Wahl wählen können), aber Nein zum passiven Wahlrecht (bei einer Wahl gewählt werden können). Und so lag etwas in der Luft, als Michael Pesaballe mit seiner Gefolgschaft auf den Zaunplatz marschierte.

«Es geht um die Zukunft des Glarnerlandes»

Bei allen Landsgemeindegeschäften gehe es um die Zukunft. Die heutige Jugend müsse ausbaden, was hier entschieden werde. «Und», rief Pesaballe den Mitlandleuten zu: «Deshalb sollten sie hier auch mitbestimmen können». Kein Zweifel, die Jungen hatten ihre Auftritte gut geübt. Ein nächster Redner zuckte selbst kurz ob seinem Mut zusammen, als er in das Mikrofon schmetterte: «Liebe Glarnerinnen und Glarner, durchbrecht die hohen Berge der Sturheit – Und gebt uns Jungen die Möglichkeit, hier mitzumachen.» Später erklärten ältere Landsgemeindebesucher, dass sie eigentlich gegen das Anliegen waren, sich aber von den engagierten und motivierten Wortmeldungen der Jungen überzeugen liessen. 

Argumente hüben und drüben

Im Memorial der Landsgemeinde 2007 waren die politische Diskussion und die Argumente für und gegen eine Senkung des Stimmrechtsalters ausführlich beschrieben. 

Argumente gegen die Vorlage

  • 16-Jährigen fehle es an erforderlicher Reife und Lebenserfahrung
  • Das Interesse und Bedürfnis sei nicht vorhanden
  • Unterschiedliche Regelung von aktivem und passivem Wahlrecht verkompliziere unnötig
  • Jugendliche seien durch Berufs- und Schulwahl, Sport und Hobbys genügend belastet und manchmal sogar überlastet
  • Wer keine Steuern bezahle, solle auch nicht über Finanzvorlagen abstimmen dürfen

    Argumente für die Vorlage
  • Jugendliche würden frischen Wind und Mut zu neuen Ideen einbringen
  • Interessierten 16-Jährigen sei das Mitmachen zu ermöglichen, die anderen kämen ohnehin nicht
  • In einem Landsgemeindekanton sei der frühe Einbezug der Jungen besonders wichtig
  • Das Argument der Beeinflussung sei nicht stichhaltig, da Jugendliche besonders kritisch seien
  • Von der Theorie im Staatskundeunterricht direkt in die Praxis sei ein guter Weg

Es war ein knapper Entscheid. Nach dreimaligem Ausmehren aber stand fest: Die Glarnerinnen und Glarner stimmen der Einführung des aktiven Stimmrechtsalters 16 zu – als erster und bis heute einziger Kanton.

«Es lag etwas in der Luft»

13 Jahre nach dem verregneten Landsgemeindesonntag und der grossen Freude der Jungen – Was ist geblieben? Das fragte der Newsroom gl.ch beim damaligen Mitinitianten Michael Pesaballe nach. Er ist heute 33 Jahre alt und arbeitet als Key Account Manager bei einem internationalen Konzern. Pesaballe hatte für seine Maturaarbeit über das Stimmrechtsalter mehrere Hundert Glarner Schülerinnen und Schüler und einige Politikerinnen und Politiker befragt. Das Thema faszinierte ihn, sodass er den Memorialsantrag der Juso aktiv unterstützte.

Wie ist Ihnen der Landsgemeindesonntag 2007 in Erinnerung geblieben?

Ich war im Vorfeld eher pessimistisch. Aber am Morgen dieses Landsgemeindesonntags spürte ich beim Einzug in den Ring trotz des regnerischen und trüben Wetters eine besondere Stimmung und dass «etwas in der Luft lag». Als der Entscheid feststand, war die Freude natürlich riesig und ich war und bin noch immer sehr stolz auf die Glarnerinnen und Glarner für diesen progressiven Entscheid.

Was gab den Ausschlag dafür, dass sich die Landsgemeinde für das Anliegen ausgesprochen hat?

Es hat sicher geholfen, dass sehr viele junge Leute mobilisiert werden konnten, und dass es auch einige junge und sehr engagierte Rednerinnen und Redner gab, welche sich für das Anliegen eingesetzt haben. Ausserdem glaube ich, dass es dem Pro-Lager in die Karten gespielt hat, dass der erste Redner völlig überraschend den Antrag gestellt hatte, das Stimm- und Wahlrechtsalter gar noch zu erhöhen. Ein weiterer Grund war, dass sich der Regierungsrat, anders als der Landrat, für das Anliegen ausgesprochen hat. Frau Regierungsrätin Marianne Dürst hat diese Haltung mittels eines sehr überzeugenden Schlussvotums nochmals deutlich gemacht.

Eine der Besonderheiten der Landsgemeinde ist, dass durch die verschiedenen Wortmeldungen eine gewisse Dynamik bei der Meinungsbildung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer entsteht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich einige Personen von den engagierten Voten noch haben umstimmen lassen.

13 Jahre später ist Glarus – entgegen den Prognosen – immer noch der einzige Kanton mit Stimmrechtsalter 16. Schade?

Klar finde ich das schade! Aber wir waren vielleicht der Zeit, wie schon bei einigen anderen zukunftsweisenden Entscheiden, einfach etwas voraus. Ich hoffe noch immer, dass bald weitere Kantone folgen werden und sich das Stimmrechtsalter 16 irgendwann auch auf eidgenössischer Ebene durchsetzen wird. Aus meiner Sicht ist der Pilotversuch im Glarnerland erfolgreich und das Stimmrechtsalter 16 hier inzwischen unbestritten.

Was hat der Entscheid 2007 für die politische Beteiligung junger Leute bewirkt?

Die jungen Leute sind durch den Entscheid nicht früher politisch interessiert als zuvor. Das Stimmrechtsalter 16 gibt jedoch den politisch interessierten und engagierten Jugendlichen eine einmalige Möglichkeit, sich frühzeitig in die Politik einzubringen. Dies führt tendenziell auch dazu, dass diese sich früher einer politischen (Jung-)Partei anschliessen und sich teilweise früher für ein politisches Amt zur Verfügung stellen. Nüchtern betrachtet hat sich durch den Entscheid vor 13 Jahren nicht wahnsinnig viel verändert. Die Stimmbeteiligung ist aus meiner Sicht weder gestiegen noch gesunken.

Vater und Tochter – Die Martis

13 Jahre nach dem Entscheid im Ring ist es höchste Zeit, eine besondere Geschichte dieses spannenden Tages zu erzählen; die Geschichte von Alt-Landammann Röbi Marti und seiner damals 15-jährigen Tochter Damia. Er stand oben am Rednerpult und leitete die Landsgemeinde, sie stand zusammen mit der Jugend unten am Bock.

Damia Marti erinnert sich: «Es war ein Landsgemeindesonntag, der wie immer mit vielen Emotionen, Vorfreude, Tradition und einfach diesem «Landsgemeinde-Nervöseli-Gefühl» verbunden war.» Einen Monat nach der Landsgemeinde feierte Damia Marti ihren 16. Geburtstag. Als politisch interessierter Mensch war klar, wie sie abgestimmt hätte. Was gab wohl den Ausschlag für die Jungen? Die Antwort ist knapp und präzis: «Der normale Menschenverstand und der Pioniergeist der Glarnerinnen und Glarner.» Diesen Pioniergeist beschwört auch Alt-Landammann Röbi Marti. Dass auch 13 Jahre später noch kein weiterer Kanton das Stimmrechtsalter 16 eingeführt hat, überrascht ihn nicht: «Das ist und kann nur Landsgemeinde.» Und ja, dieser 07er-Entscheid habe sehr wohl etwas bewirkt: «Die jungen taffen Redner der letzten Jahre sind das Produkt davon.» Noch etwas – Vater und Tochter sind sich einig – sei entscheidend gewesen. Im Gegensatz zu den Befürwortern, erinnert sich Röbi Marti, hätten die Gegner «auf den Mann» (resp. auf die Jungen) gespielt, was an der Landsgemeinde immer kontraproduktiv sei. Die Gleichsetzung von Jugendlichen mit «Flegelalter» war und ist auch für Damia Marti nicht nachvollziehbar: «Jugendliche können mit oder ohne Stimmberechtigung Leitplanken überschreiten. Das hat nichts mit politischem Interesse zu tun.»

Und heute?

Auch 13 Jahre nach dem Glarner Ja zum Stimmrechtsalter 16 haben noch keine weiteren Kantone nachgezogen. Das widerspricht den damaligen Erwartungen, die dem Landsgemeindeentscheid eine Signalwirkung zusprachen. Verschiedene Anläufe in Kantonen der Deutschschweiz und der Romandie scheiterten. Trotzdem bleibt das Thema ein politischer Dauerbrenner: Im Kanton Uri stehen die Chancen derzeit gut, nachdem Regierungsrat und Landrat einen entsprechenden Vorstoss unterstützten. In weiteren Kantonen steht das Thema auf der Traktandenliste. Interessensgemeinschaften lobbyieren, die Stiftung Pro Juventute weibelt und selbst eine Einführung auf Bundesebene wird diskutiert. 

Im Kanton Glarus ist die Stimmbeteiligung bei nationalen Wahlen und Abstimmungen (wo die 16-Jährigen nicht mittun dürfen) nach wie vor besonders tief. Offensichtlich vermögen weder das Stimmrechtsalter 16 auf kommunaler und kantonaler Ebene noch die Jugendsession oder die Landsgemeinde, die Lust an politischer Partizipation zu wecken. Es ist ein Legislaturziel des Regierungsrates, hier Gegensteuer zu geben. Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern des Kantons und der Gemeinden ist daran, in einem wissenschaftlich begleiteten Bericht nach Erklärungen zu suchen und Massnahmen abzuleiten.