Wölfe als Teil eines komplexen Ökosystems

Seit neun Jahren streifen wieder Wölfe durch den Kanton Glarus. Diesen Frühling entstand ein zweites Rudel. Ein schweizweites Grossraubtier-Monitoring verrät, wer wo unterwegs ist und gibt Einblick in das Leben der Wölfe.



Im Mai 2021 entdeckte die Glarner Wildhut die hochträchtige F32 (rechts) mit ihrem Partner M172. Damit war klar, dass bei den Glarner Wölfen zum zweiten Mal mit Nachwuchs zu rechnen war. Aus dem Wurf, der wenig später geboren wurde, stammt F110, jenes Weibchen, das dieses Jahr das zweite Glarner Wolfsrudel gegründet hat. (Foto © Michael Freuler)
Im Mai 2021 entdeckte die Glarner Wildhut die hochträchtige F32 (rechts) mit ihrem Partner M172. Damit war klar, dass bei den Glarner Wölfen zum zweiten Mal mit Nachwuchs zu rechnen war. Aus dem Wurf, der wenig später geboren wurde, stammt F110, jenes Weibchen, das dieses Jahr das zweite Glarner Wolfsrudel gegründet hat. (Foto © Michael Freuler)

Vom Schilt-Rudel sind drei Jungwölfe in eine Fotofalle getappt. Die Jungtiere des Kärpf-Rudels wurden in diesem Jahr noch nicht entdeckt. Das Glarnerland mit seinen unzugänglichen Bergwäldern bietet Wölfen gute Rückzugsgebiete. Dank hohen Wildhuftier-Beständen ist auch ihre Nahrungsbasis solide. Als 2014 nach über 200 Jahren wieder ein Wolf im Kanton auftauchte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Rudel bildete: F32, eine aus dem bündnerischen Calanda-Rudel abgewanderte Wölfin, zog 2020 im Mürtschental Welpen auf. Seither hatte sie jährlich Nachwuchs. Ihr Partner M172 stammt von der Balkan-Population ab. Das zeigt, dass heute Wölfe verschiedener Herkunft die Schweiz besiedeln. Anfänglich waren es nur Tiere aus der italienisch-französischen Population. «In der Schweiz versucht man möglichst viele Wölfe genetisch zu identifizieren, um mehr über sie zu erfahren», erklärt Wildtierbiologin Manuela von Arx. «Gelingt es, erhalten die Tiere eine Nummer.» Von Arx arbeitet bei der Stiftung KORA, die im Auftrag des Bundes die Grossraubtiere in der Schweiz überwacht und sich mit der Koexistenz zwischen Mensch und Raubtier befasst. Der Buchstabe F stehe für Weibchen, M für Männchen, erläutert sie die Namencodes. Das Erkennungssystem erlaubt einen Blick ins Leben der Wölfe. Zum Beispiel von F110, dem zweiten Muttertier im Glarnerland.

Fürsorgliche Familientiere

F110 ist eine Tochter von F32 und M172. Sie wurde 2021 im Kärpfgebiet geboren. Fast ein Jahr später machte sie Schlagzeilen, weil sie durch die Wildhut besendert wurde. Ihre Standortdaten verrieten, wie mobil Wölfe sind: innert kurzer Zeit konnte das Weibchen in Elm, Engi und Linthal festgestellt werden. Wölfe legen in einer Nacht problemlos über 60 Kilometer zurück. «Sie kontrollieren ihr Revier und suchen Nahrung», so von Arx. Anfang April 2022 verliess F110, wie für die Art üblich, ihr Geburtsrudel. Über den Klausenpass lief sie bis in die Kantone Uri und Schwyz. Auf solchen Wanderungen durchqueren die Grossraubtiere auch den Talboden. Biologin von Arx beruhigt: «Die Wölfe suchen nicht die Nähe der Menschen. Sie nutzen schlicht den einfachsten Weg.» Meist wandern sie unbemerkt. F110 kehrte im Mai desselben Jahres wieder zurück und half ihren Eltern bei der Aufzucht ihrer 2022 geborenen Geschwister. Mit einem noch unbekannten Partner hat sie diesen Frühling im Gebiet Schilt nun ein eigenes, das zweite Rudel im Glarnerland gegründet. Ihre Jungen dürften zwischen April und Mitte Mai zur Welt gekommen sein. Pro Jahr hat eine Leitwölfin einmal Nachwuchs. Die drei bis acht Welpen kommen in einer Erdhöhle zur Welt, wiegen bei der Geburt nur 500 Gramm, sind blind und hilflos. Da F110 und ihr Partner das erste Mal Nachwuchs haben, müssen sie allein für ihre Jungen sorgen. Später helfen meist die Jungtiere aus dem Vorjahr bei der Jungenaufzucht mit. Diese kümmern sich ebenso fürsorglich wie die Eltern um ihre Geschwister. Beim gemeinsamen Spiel trainieren junge Wölfe ihre Geschicklichkeit und machen sich mit der Wolfs-Kommunikation über Körpersignale, Duftmarkierungen und Rufe vertraut. So kann Streit rasch geschlichtet werden. Das Familienleben funktioniert, weil sich die Rudelmitglieder wohlgesinnt sind. Gehen die Eltern auf Jagd, bleiben die älteren Geschwister bei den jüngeren und bewachen sie.

Intelligenter und anpassungsfähiger Jäger

Wölfe jagen im Sommer oft allein. Sie ernähren sich hauptsächlich von Wildhuftieren. Ihre Beute verfolgen sie im Spurt. «Mit dieser Strategie erbeuten Wölfe vor allem junge und alte sowie kranke und unaufmerksame Tiere», sagt von Arx. Diese hätten bereits ein erhöhtes Sterberisiko. Mit der Auslese von kranken und schwachen Rehen, Gämsen und Rothirschen würden Wölfe gesunde Beutetier-Populationen fördern. Manchmal greifen Wölfe auch Nutztiere an, vor allem Schafe, selten Kälber. Hungrige Wölfe nutzen günstige Gelegenheiten. «Bis ihnen wieder ein Jagderfolg gelingt, müssen sie teilweise viele Tage fasten», gibt von Arx zu bedenken. Herdenschutz sei unumgänglich und erfolgreich, auch wenn nicht jeder Schaden verhindert werden könne. Er bleibe jedoch eine ständige Herausforderung. «Wölfe sind intelligent. Finden sie eine Schwachstelle im System, nutzen sie diese aus.» Oft auf Unverständnis stösst, wenn Wölfe mehrere Schafe reissen und erst mit Fressen beginnen, wenn keine Beute mehr flieht. Für den Wolf mache dieser Jagdreflex Sinn, meint von Arx: «Er nimmt, was er erwischt.» Bei Wildhuftieren, die in alle Richtungen flüchten, könne er nur ein Tier schlagen. Bei eingezäunten Schafen sei das anders. Reisst ein Wolf mehrere Tiere, dienen ihm diese in den folgenden Tagen als Nahrung, da Wölfe auch Aas fressen.

Die Natur profitiert vom Wolf

Viel Beute ist für einen Wolf kein Problem. Er kann bis zehn Kilogramm Fleisch auf einmal fressen. Fast dreimal mehr, als sein durchschnittlicher Tagesbedarf. Allfällige Reste verzehren Rudelmitglieder oder der Wolf kehrt später für weitere Mahlzeiten zum Kadaver zurück. Es sei denn, Aasfresser wie Füchse, Kolkraben oder Gänsegeier sind schneller. Bartgeier, die sich von Knochen ernähren, und Insekten, die wiederum Nahrung von anderen Tieren sind, profitieren ebenfalls von den Rissen. Wölfe stehen am Ende der Nahrungskette und sind Teil eines komplexen Ökosystems. Sie beeinflussen ihre Umwelt direkt und indirekt. Vertreiben sie kleinere Raubtiere wie Füchse aus einem Gebiet, kann sich das positiv zum Beispiel auf Bodenbrüter wie das Auerhuhn auswirken. ‚Wo der Wolf jagt, wächst der Wald‘, lautet ein russisches Sprichwort, das den Einfluss des Grossraubtiers auf die Pflanzenwelt thematisiert. Aus forstlicher Sicht braucht es an den Wald angepasste Wildhuftier-Bestände, damit junge Bäume aufwachsen können und Knospen nicht zu stark verbissen werden. Nur Wälder mit genügend Jungwuchs schützen langfristig vor Naturgefahren und können sich dank der aufwachsenden Baumarten-Vielfalt an den Klimawandel anpassen. Wölfe tragen zur Regulation der Wildhuftiere bei, ohne sie auszurotten. Bereits ihre Anwesenheit wirkt sich auf die räumliche und zeitliche Verteilung ihrer Beutetiere aus: Reh, Rothirsch und Gämse wechseln häufiger ihren Standort und sind vorsichtiger geworden. Die jungen Wölfe vom Kärpf- und Schiltrudel kümmert das nicht. Sie überlassen die Jagd noch den älteren Rudelmitgliedern, auf die sie an Treffpunkt-Plätzen warten. Kehrt ihr Rudel zurück, wird es freudig begrüsst und um Futter angebettelt. «Im Spätsommer und Herbst, wenn die Jungen erste Streifzüge unternehmen, erreicht das Wolfsheulen einen Höhepunkt», erzählt Manuela von Arx. «Das gemeinsame Heulen dient der Revierabgrenzung, aber auch dem sozialen Zusammenhalt der Gruppe.» Für einige der älteren Geschwister endet aber die Zeit in der Familie bald, weil sie das Rudel verlassen. Ihnen steht die für Wölfe risikoreiche Phase der Abwanderung bevor.

Gut, wenn man seinen Nachbarn kennt

Wegen Angriffen auf Nutztiere sollen das Kärpf- und das Schiltrudel reguliert werden. Bewilligt der Bund die Anträge des Kantons, darf die Hälfte der diesjährigen Jungtiere erlegt werden. Die Jungwölfe werden geschossen, wenn das Rudel zusammen ist und sich in der Nähe von Siedlungen oder Nutztieren aufhält. Das soll die Elterntiere lehren, sich von solchen Orten fernzuhalten. Im Winter 2022/23 fanden bereits Regulierungs-Abschüsse statt. Bei Abschüssen werden die Leitwölfe nach Möglichkeit geschont. Von sesshaften Einzelwölfen und Rudeln kennt man die Gewohnheiten. Zudem halten sie fremde Wölfe aus ihrem Gebiet fern. Zerbricht hingegen ein Rudel, weiss man nicht, welcher Wolf das freie Revier übernimmt und wie sich das neue Rudel verhält. Informationen zum Wolf liegen auf im Naturzentrum Glarnerland, Schweizerhofstr. 2, 8750 Glarus. www.naturzentrumglarnerland.ch.