Zu tausend Gefühlen, einem Badezimmer und anderem – Tim Krohn las im Richisau

Leicht verrückt, entrückt, ungemein wortreich und charmant, brillant erzählend, die Neugierde meisterhaft weckend, Lust auf noch Unbekanntes weckend, das war Tim Krohn anlässlich des vierten und letzten Teils des diesjährigen Literatursommers im «Richisau», herzlich begrüsst von Gaby Ferndriger, Verantwortliche der Buchhandlung Baeschlin und Baeschlin littéraire.



Tim Krohn konnte aus dem Vollen schöpfen. (Bilder: p.meier) Gaby Ferndriger
Tim Krohn konnte aus dem Vollen schöpfen. (Bilder: p.meier) Gaby Ferndriger

Und wer gekommen war, hatte diesen Schritt in keiner Weise zu bereuen. Es passte einfach alles zusammen – die geheimnisvollen frühherbstlichen Nebel über dem verträumten, stillen Klöntalersee, die sich verfärbenden Bäume, die hin und wieder durchdringende Sonne und die erhabene Ruhe im «Richisau». Es schien, als hätte Tim Krohn einen Teil dieser Stimmungen eingefangen, sie in passende Worte gehüllt, um sie der aufmerksam lauschenden, genussvoll mitvollziehenden Leserschaft zu unterbreiten.

Die Herren Brechbühl und Wyss


Dass die Herren Brechbühl und Wyss und mit ihnen die überschaubare Zahl an Bewohnerinnen und Bewohnern des Mehrfamilienhauses einer Zürcher Genossenschaft zu agieren begannen und ein Stück ihrer ebenso bewegenden wie bewegten Geschichte preisgaben, bedurfte es einer durchschlagenden Idee, die den nicht eben preisgünstigen Einbau eines Badezimmers im mehr als 400 Jahre alten Wohnhaus der Familie Krohn im Val Müstair zum Inhalt hat. Darüber berichtete Tim Krohn freimütig. Er und seine Familie hätten sich entschieden, die betagte Mutter bei sich aufzunehmen. Das machte bauliche Anpassungen notwendig, sind doch im Innern geheimnisvoll anmutende Winkel sowie steile und krumme Treppen vorhanden.

Crowdfunding


Die Beschaffung der finanziellen Mittel erfolgte in einer Weise, die aufhorchen lässt und deren Auswirkung ganz viele Leute begeisterte, einbezog. Tim Krohn, begnadeter Schriftsteller, entschloss sich nach dem Fertigen einer Liste mit knapp 1000 Regungen ab «Aalglatt» bis «Zynismus» – dazwischen beispielsweise Affekt, Bestialität, Flegelhaftigkeit, Eros, Freiheitsliebe, Keuschheit, Kinderliebe, Herablassung, Nihilismus, Unbelehrbarkeit, Verschnupftheit, Weitsicht, Zauber und Zugtrieb – mit Crowdfunding an seine Leserschaft zu beginnen. Er bot eine Tranche von 111 Geschichten zum Verkauf an. Jeder Unterstützer durfte sich eine der Regungen aussuchen und erhielt in der Folge seine ganz persönliche Geschichte. Jeder Begriff wird nur einmal vergeben und die Unterstützenden waren stets gebeten, zum gewählten Begriff maximal drei ganz beliebige Wörter anzugeben, die sie in ihrer Geschichte wiederfinden wollten. Das hatte unerwarteten Erfolg. Die 111 Geschichten und noch einige dazu waren innerhalb eines Monats verkauft.

Krohns Lebenswerk? – ein klares Nein


Tim Krohn hatte einst gedacht, das sei der Beginn seines Lebenswerks. Bisher sind zwei Romane erschienen, in denen nie alle Geschichten Platz gefunden haben. Sie handeln von Hubert Brechbühl, dem frühpensionierten Trämler; von Moritz Schneuwly, Student an der ETH und stets am Tüfteln; vom 80-jährigen Ehepaar Wyss; von Julia Sommer und ihrer vierjährigen Tochter; der freischaffenden Schauspielerin Selina May; dem Filmregisseur Heinz Mallaya, dem zuweilen liebestollen Paar Pit und Petzi und vielen anderen.

Und wie Tim Krohn die Schicksale dieser Leute verwebt, sie leben, erleben lässt, sie auf Reisen schickt ist hohe Kunst, die man kaum erlernen kann. Man hat fast das Gefühl, dass diese Talente den Herrn Krohn fast verfolgt – und ihn erreicht haben, ihn glücklicherweise nicht mehr loslassen.

Im Verlaufe der Lesung wurde klar, wie leichtfüssig, behutsam, deutungsreich, zupackend, geniesserisch, einfallsreich, mit beneidenswert kreativem Wort- und Gestaltungsreichtum Krohn zu schildern weiss. Er möge verzeihen, wenn zuweilen bei jenen Neid aufkommt, die über derartige Begegnungen zu berichten haben.

Zur Person

Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, lebt seit 1966 in der Schweiz. Er wuchs in Glarus auf und studierte zwischen 1984 und 1992 Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Heute lebt er mit seiner Familie in Sta. Maria. Er ist Verfasser von Prosatexten, Dramen und Hörspielen. Er verfasste die Bühnenvorlage für das Einsiedler Weltspieltheater 2013. Verschiedentlich wurde er mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet.

Inhalte der Lesung


Mallaya – eine der vielen Personen – ist Filmregisseur, Vielfrass, Reisesüchtiger, deutlich Urteilender, Fordernder. Für ihn sind Gletscher der Ort der Toten. Krohn bezieht die freischaffende Schauspielerin Selina May mit ein. Die glarnerische Landschaft bringt der Autor seiner Leserschaft auf bildhaft starke Art näher. Er gestattet das Verweilen, Beschauen, Dahinträumen.

Mühelos, wort- und ebenso einfallsreich führt er in die Bereiche des Geselligen, Altwerdens, Sterbens, verratend, wer irgendwann das Mehrfamilienhaus in Zürich verlassen wird, damit in einer von vielen Sequenzen aufzeigend, wie friedlich der Tod sein kann.

Erheiterung macht sich breit, als einer der Bewohner – ein Senior – ausgerechnet am Weihnachtsabend einen Begleitservice anruft, um sich jemanden herbeizuwünschen, sich die Kleider seiner Frau anzieht und den Gang in die Kirche wagt.

Die Arbeit des Gärtners Adamo, leidenschaftlich und intensiv tätig; Ausführungen zum Begriff «Sinlichkeit», der noch nicht eingetroffene, aber sichere Tod des ETH-Studenten Moritz Schneuwly sind Ankündigungen auf weitere Bände in einer Reihe, deren Ende noch nicht ganz absehbar ist.

Aber Krohn sagt ganz klar, dass er sich gebührend Zeit lasse, um auch für anderes tätig zu sein.

Ausklang


Krohn ist mit dem Val Müstair verwurzelt. Er redet von einem Haus, das seit 20 Jahren leer steht, das erworben werden sollte, damit es mit Schreibfreudigen, kulturellen Angeboten und anderem erhalten bleibt. Bahnt sich da ein zweites Crowdfunding an? Man spürt Krohns Liebe zu diesem Tal, das sich immer stärker entvölkere.

Es wird von Gaby Ferndriger auf weitere Lesungen aufmerksam gemacht: Eveline Hasler weilt am 6. Oktober im Tierfehd, Wilhelm Schmid liest am 2. November in Glarus. Und im Juni des kommenden Jahres wird wieder zum Literatursommer eingeladen.

Christian Portmann weist auf die Gemeinnützige Stiftung Richisau, den Aufbau und die Trägerschaft samt geplanten Angeboten im Dreieck «Kultur – Natur – Kunst» hin. Der fertig erstellte Kulturpfad, von Lehrlingen des Paul Scherrer Instituts realisiert, die Richisauer Schwammhöhe, die neuen Literaturtage und anderes gehören zu willkommenen, mit Interesse aufgenommenen Hinweisen.

Und wer noch verweilen wollte, konnte bei Sonnenschein die Gastlichkeit im «Richisau» umfassend geniessen.