Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

Die Verantwortlichen der Kulturbuchhandlung Wortreich in Glarus luden unlängst zum Begegnen mit dem Bündner Schriftsteller Leo Tuor und dem Glarner Musiker Martin Lehmann ein. Spannend ist Derartiges für alle, die sich mit Unbekanntem, in Vorschauen knapp Angekündigtem und bereits Erschienenem auseinandersetzen wollen.



Leo Tuor (links) und Martin Lehmann. (Bilder: p.meier)
Leo Tuor (links) und Martin Lehmann. (Bilder: p.meier)

Leo Tuor, in der Surselva lebend, wurde von Christa Pellicciotta, Geschäftsführerin der Buchhandlung im Abläsch Glarus, ganz kurz vorgestellt. Der Autor, Verfasser vieler Essays und Kolumnen, studierte einst Philosophie und Literatur, war als Lehrer tätig und zog sich dann aus Bewegendem zurück, um als Schaf- und Ziegenhirt tätig zu werden. Mit seiner Frau führt er eine Käserei. Einiges verbindet ihn mit dem Musiker Martin Lehmann, beruflich und wohl auch ideell. Über das Bewirtschaften von Alpen, die sachrichtige Pflege von Ziegen und Schafen, Naturbeobachtungen, mannigfache Kontakte mit Berggängern, und anderes hätten beide wohl viel zu berichten und mit Worten oder Musik auszudrücken.

Der romanischsprachige Leo Tuor begann die Lesung mit einem im Juni 2012 geschriebenen Brief an Rousseau, einen längst Verstorbenen, ihn heute nach wie vor aussergewöhnlich faszinierenden Menschen. Er attestiert Rousseau, in der Zeit der fast ausufernden Korrespondenz gelebt zu haben. Er erwähnt «Julie», Rousseaus wohl erfolgreichstes Buch, einen Briefroman. Er bedauert, dass Ausformuliertes, Feinsinniges, Markantes, Dinge die einer vertiefenden Erklärung bedürfen aus der heutigen Form des Kommunizierens grösstenteils verschwunden sind. SMS, Kürzel, sprachlich Vermurkstes prägen die heutige Zeit. Tuor nimmt Aussagen von Rousseau auf, spinnt sie weiter. Das kommt zuweilen einem Bekenntnis gleich. Rousseau stürme den Himmel der Aufklärung, wenn er feststelle, dass unter den Händen des Menschen alles entarte. Viele probierten, das Buch zu zerstören, Inhalte anderen vorzuenthalten. Es nützte nichts, es leuchtete umso stärker. Tuor ist nicht weltfremd, wenn er bedauert, dass Rousseaus Gedanken nicht mehr gelesen werden; wenn er nüchtern feststellt, dass heutige Kommunikationsformen ungeheuer Wertvolles, kulturell Bedeutsames weggefegt haben. Befand sich der Bündner in einer ähnlichen Situation, als er einst gegen Missliebiges in der engeren Heimat klar Stellung bezog, damit polarisierte, totgeschwiegen wurde, keine Stipendien mehr erhielt?

Tuor begab sich in einem zweiten Teil der Lesung an den Tisch der Götter, hin zum Tödi. Er schildert die Erstbesteigung im August 1824, zeigt mit Respekt auf, wie faszinierend diese gewaltige Erhebung ist, wie viel Angst, Anstrengung, Kapitulation und Überwindung beim Bergänger, dem Betrachtenden, Erorbernden, Verharrenden ausgelöst werden. Der Tödi, so Leo Tuor, sei so etwas wie unser Mount Everest, auf dem sich zuweilen seltsame Wesen begegnen, grusslos enteilen. Tuor protokolliert Erlebtes, Empfundenes in meisterhafter, bewegender Weise.

Mit Wörtern ist er verbunden, verwurzelt. Inhalte spornen ihn an, lassen ihn Angedachtes so gekonnt weiterführen. Aus Kleinem wird Grosses, Erhabenes. Die Geschichte um «Grossmutters liebstes Tier» vermag das zu verdeutlichen. Tuor beschreibt kraftvoll, in behutsamem Annähern und Zerlegen einer unausweichlichen, biologischen, natürlichen Ganzheit. Das Leben und Vergehen einer Sau ist gewiss nicht weltbewegend, ist ein ganz winziges Mosaiksteinchen im Irgendwo. Tuor hebt vieles hervor, fügt Stationen dieses Muttersau-Daseins aneinander. Er tut das leidenschaftlich, eindringlich, kraftvoll, nachvollziehbar detailversessen. Niedergeschriebenes erwacht zum bewegenden Leben samt Launen, Erkenntnissen und Abschied. Die riesige Sau rückt in den Mittelpunkt jener, die sie begleiten, pflegen, erleben. Sie rückt auch ins Zentrum jener, die so gebannt zuhören.

Der literarische Abschluss handelt von der unerreichten Tradition jener Bündner, die Kaffee nicht einfach aus irgendwelchen Tassen trinken. Das ist Kultur, Leben, Erleben, Verweilen. Kaffee – so Tuor – ist die Muttermilch der Bündner, ist Heiltrank .gegen fast alles, vermag beinahe alle Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten zu beeinflussen. Schweigsame und schwatzhafte Bergler geben sich dem Ritual hin, bereitwillig und kenntnisreich.

Martin Lehmann begab sich in diese Fülle beschwingt, spannend, leicht experimentierend rein, verlieh literarischen Aussagen teilweise eine willkommene musikalische Gewichtung. Dank Loop wuchs zuweilen eine kleine Band, die ein Einzelner so spielerisch zum Leben erweckt. Lehmann reizte diese Klanggefüge und die erfahrungsgemäss unerschöpflichen technischen Möglichkeiten glücklicherweise nicht aus.

Das Begegnen war interessant, erfüllend. Der Beifall fiel verdientermassen lang und herzlich aus. Zum Verweilen und Gedankenaustausch blieb erfreulich viel Zeit.