Denken braucht Zeit ...

Wir haben mehr Zeit zur Verfügung als unsere Vorfahren und jammern doch immer über Zeitnot. Ein Symposium der Akademie Menschenmedizin regt zum Nachdenken an.



Spannend: Die Akademie Menschenmedizin lud zu einem Zeit-Symposium im Kunsthaus Zürich ein. (Bild: mb.)
Spannend: Die Akademie Menschenmedizin lud zu einem Zeit-Symposium im Kunsthaus Zürich ein. (Bild: mb.)

Die Einladung zum Symposium «Zeit – Mensch – Medizin» von der Akademie Menschenmedizin, die sich für ein menschengerechtes und bezahlbares Gesundheitswesen einsetzt, tönt interessant. Das Symposium beleuchtet das Phänomen Zeit aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, sodass ich mich anmelde. Es geht um Themen wie Zeitnot, Zeitverdichtung, Zeitansprüche oder Zeitgeist.


Dann folgt die klassische Situation: Einen Tag vor dem Symposium denke ich, ich würde besser hierbleiben und arbeiten, eigentlich hätte ich keine Zeit für den ganztägigen Anlass in Zürich. Da ich mich aber angemeldet habe, verwerfe ich diese Gedanken wieder.

Weil mein Mann gleichzeitig in der Umgebung von Zürich zu tun hat, fahren wir mit dem Auto. Wegen einem Stau auf der Hochstrasse und in der Innenstadt geraten wir schon bald in Zeitnot. Doch ich schaffe es noch rechtzeitig ins Kunsthaus und bin bei Weitem nicht die Letzte der rund 180 Teilnehmenden.

Bald beginnt im Saal ein Pianist zu spielen, und eine wohltuende Ruhe breitet sich aus. Er nimmt nach jedem Referat das Gesprochene musikalisch auf. Eine Künstlerin reflektiert zudem die Vorträge in Bildern, die am Schluss des Tages versteigert werden. Schön, dass auch die Kunst Platz hat!

Ein Video, das den Flug durch die Zeit – von der Geburt bis ins Grab – zeigt, stimmt auf das Tagungsthema ein. «Zeit ist Geld, eben auch in der Medizin», sagt ein ehemaliger Chefarzt in der ersten Runde. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche habe sich zum Problem und zu einer Art Ersatzreligion entwickelt. «Es liegt an uns, sich Zeit zu nehmen und innezuhalten», meint ein Direktor einer Reha-Klinik.

Ein Ethiker plädiert für eine Entschleunigung in den medizinischen Wissenschaften: «Unnötige Forschung ist zu vermeiden. Wir brauchen mehr Qualität statt Quantität.»

Ein Physiker zündet ein rhetorisches Feuerwerk. «Alles hat seine Zeit. Nur ich habe keine. Es ist an der Zeit, sein Leben zu entschleunigen. Nicht mehr im Takt der Uhr zu leben, sondern im Rhythmus der Natur und dabei die Tugend der Gelassenheit zu entdecken», so sein Fazit.

Ein Philosoph plädiert hingegen für die Lust, Gas zu geben. «Was fangen wir mit dem Zeitwohlstand an?», fragt er. Unsere Vorfahren hätten davon nicht zu träumen gewagt: «Ich mag unsere Klagen über Zeitnot nicht mehr hören. Ohne Beschleunigung gibt es keinen Wohlstand.»

Ein Soziologieprofessor erinnert an den derzeitigen Wandel von der industriellen zur reflektierenden Moderne. Geld präge den Umgang mit der Zeit. Effizienz zu optimieren, sei aber gefährlich: «Wir haben mehr Arbeitslose, die unfreiwillig über mehr Zeit verfügen. Es gibt mehr Stress im Umgang mit der Zeit.»

Drei junge Frauen machen sich Gedanken über den Zeitdruck im klinischen Alltag und fordern familienfreundliche Arbeitsstellen, um eine ausgeglichene Balance zwischen Beruf und Freizeit zu erreichen.

Im Sinne einer Zeitumkehr zeigt ein «Public Health»-Spezialist schliesslich auf, was wir von der Gesundheitsversorgung in der Dritten Welt lernen können.

Die Referate, welche von einer gemeinsamen Mittagspause unterbrochen werden, sind dank der unterschiedlichen Sichtweisen höchst spannend und regen an, über die Zeit nachzudenken: generell, aber auch meine individuelle Zeit betreffend.

Nach einem meisterhaft gespielten Schlusskonzert des Pianisten verlasse ich das Kunsthaus und tauche wieder in die pulsierende Stadt ein. Ich bin müde, aber erfüllt und bereichert vom Gehörten – und froh, dass ich mir die Zeit für das Symposium genommen habe. «Denken braucht Zeit», hat der Ethiker gesagt. «Diese Zeit haben wir, wenn wir wollen, wir müssen sie uns aber bewusst nehmen. Veränderung ist möglich», lauten meine Schlussgedanken im immer dichter werdenden, hektischen und lauten Feierabendverkehr in Zürich. Wie bin ich froh, dass ich den Grossteil meiner Zeit im ruhigeren Glarnerland verbringen darf!