Die Strassenkinder von Moskau

Der Fernweh-Glarner und glarus24-Kolumnist Martin C. Mächler lebt zur Zeit in Moskau. Von hier schildert er künftig seine Eindrücke aus der russischen Hauptstadt.



Die Strassenkinder von Moskau

Sie leben unter Brücken, in Abbruchhäusern und U-Bahnschächten. Sie sind oft krank und drogenabhängig. Sie prostituieren sich. Sie suchen sich ihr Essen in Mülltonnen, leben von dem was die Gesellschaft wegwirft. Sie haben keine medizinische Betreuung. Niemand kümmert sich um sie. Die Strassen Kinder von Moskau. Ob im Sommer oder im eiskalten Winter. Die Strasse ist ihr zuhause.

Ich treffe mich mit der Vize-Präsidentin der Strassenkinder Organisation SAMUSOCIAL-MOSKAU zu einem Mittagessen. Ich übergebe Eleonore Senlis ein Couvert mit Spendengeldern, das von Mitgliedern der Schweizer Botschaft gesammelt wurde. Sie strahlt, bedankt sich und meint, dass es mehr solche Aktionen geben sollte. Ihre Organisation lebe nur von Spendengeldern. Sie ist Französin und Koordiniert die Hilfe von einem kleinen Büro aus. Der Gründer dieser Organisation Dr. Xavier Emmanuelli, war auch Mitbegründer von "Ärzte ohne Grenzen". Unter der Schirmherrschaft des damaligen Pariser Stadtpräsidenten Jacques Chirac wurde SAMUSOCIAL 1993 ins Leben gerufen.

Auf meine Frage, ob ich sie einmal bei ihrer Arbeit begleiten kann und einige Bilder machen darf, reagiert sie verhalten. Es sei schwierig, und zwar deshalb, weil die Strassenkinder sehr misstrauisch gegenüber Fremden reagieren würden. Und es sei Teil ihrer Aufgaben, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen um sie medizinisch und psychologisch betreuen zu können. Das kann ich durchaus begreifen. Man weiss, dass Kinder, die in der Stadt von der Miliz aufgegriffen werden, nicht zimperlich behandelt werden. Meistens kommen sie zuerst in Polizeigewahrsam und werden später in ein Kinderheim gebracht, das oft eher einem Gefängnis gleicht und ohne grosse Betreuung ist.

Die Aufgabe ihrer Organisation sei es, wie schon erwähnt, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, dass man sie ärztlich versorgen kann und ihnen eine Hand bietet, bei der sie Hilfe bekommen. Nur zum Vergleich: In Paris habe es 800 verschiedene Organisationen, die sich um Strassenkinder und Obdachlose kümmert. In Moskau sind es gerade einmal 10. Eine verschwindend kleine Anzahl, die es verunmöglicht die ganze 17 Millionen Metropole zu betreuen. Sie konzentrieren sich nur auf einen Teil. Mehr sei nicht möglich. Auch werden die Kinder immer wieder vertrieben. Man will von behördlicher Seite aus das Problem nicht erkennen. Man spricht auch nur sehr ungern darüber. Man sieht es nicht, weil man es ganz einfach nicht sehen will. Und deshalb bekommen Organisationen wie Samusocial von Behördlicher Seite weder finanzielle noch logistische Unterstützung.

Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen kommen vom Land. Sie flüchteten aus dem Elternhaus. Die Geschichten, die sie erzählen, gleichen sich immer. Der Vater trank und hat sie regelmässig verprügelt. Bis sie in die Stadt flüchteten. Doch die Gefahr, dass sie den Drogen verfallen, kriminell werden, oder sich prostituieren sei sehr gross. In Russland gibt es gemäss einer UNICEF Studie 100 000 bis 150 000 Strassenkinder. Davon leben ca. 40 000 in Moskau
Auf meine Frage, ob sie die Kinder wieder zu ihren Eltern zurück bringen, antwortet Eleonore mit nein. Das sei sinnlos. Sie würden gleich wieder davonlaufen. Es habe zwar schon Fälle gegeben, wo sie es geschafft haben, aber die seinen sehr selten.

Das speziell geschulte Team, 4 Ärzte, 3 Psychologen und 3 Fahrer, das jeden Abend ab 18.00 Uhr an den Moskauer Stadtrand fährt, um in der Nacht die Kinder und Jugendlichen zu suchen und zu betreuen, arbeitet unentgeltlich. Seit 2006 konnten so schon über 7500 Kontakte hergestellt werden.

Eleonore Senlis erzählt mir, dass es nicht nur schwierig ist Spendengelder auf zu treiben, auch Medikamente die sie dringend benötigten, seien oft nur schwer zu bekommen. Schnittverletzungen, Abszesse und Hautauschläge, die von mangelnder Hygiene herrühren, seien die meisten Fälle, die sie behandeln müssten. Alle Spendengelder, die sie erhalten, werden zu 100% für die Kinder eingesetzt. Es ist eine schwierige Aufgabe. Doch wenn man sieht, wie vielen Kinder und Jugendlichen sie schon helfen konnten, sei das immer wieder ein Ansporn um weiter zu machen. Doch ein Ende sei noch lange nicht in Sicht. Ihre Arbeit sei ein Tropfen auf einen heissen Stein. Doch es ist notwendig. Das Bild das die Presse über Moskau verbreite, das Reichtum und Wohlstand zeigt, ist nicht nur trügerisch, sondern viel eher eine Scheinwelt. Die Superreichen kümmern sich kaum um dieses Problem. Und wenn, missbrauchen sie es zum Geldwaschen.

Man spürt wie Eleonore Senlis für dieses Projekt lebt. Es ist bewundernswert, dass sich Menschen so stark für Benachteiligte einsetzen. Als wir uns nach dem Essen verabschieden, versprechen wir, uns wieder zu sehen. Und ich hoffe, dass ich dann wieder ein Couvert mit Spenden für SAMUSOCIAL in der Tasche habe.