Fahrtsrede von Landammann Benjamin Mühlemann

Turnusgemäss hielt dieses Jahr Landammann Benjamin Mühlemann die Fahrtsrede im Schneisingen. Wie in den meisten Jahren, war das Wetter dem Gedenktag einmal mehr wohlgesinnt. Die wärmenden Sonnenstrahlen lockten viele Glarnerinnen und Glarner, aber auch Gäste aus nah und fern nach Näfels. Nachstehend nun der Originaltext der diesjährigen Festrede.



Fahrtsrede von Landammann Benjamin Mühlemann

«Der bitteren Realität mit Zuversicht begegnen» 

Hochgeachteter Herr Landesstatthalter Hochvertraute, liebe Mitlandleute 

Jedes Jahr – ausser es grassiert eine Pandemie – versammeln wir uns am Waldrand im Schneisigen und gedenken unserer Vorfahren. Jenen, die vor bald 640 Jahren genau hier den Grundstein gelegt haben für Demokratie, für Freiheit und für Wohlstand. Es ist stets ein erhabener und feierlicher Moment, wenn wir auf dem offenen Feld und direkt am Ort der Geschehnisse von 1388 gemeinsam den andächtigen Klängen der Blasmusik lauschen können. So wie heute wieder. Feierlich ist es insbesondere deshalb, weil wir die Errungenschaften von damals nach wie vor geniessen dürfen. Das ist keine Selbstverständlichkeit – nein, es ist ein Privileg! Und der Rückblick oder die Besinnung auf die Hingabe und das Vermächtnis unserer Vorfahren soll uns Ansporn sein, die Herausforderungen der Gegenwart ebenso entschlossen anzupacken. 

Wir sind zusammengekommen, um denjenigen Glarnern und Eidgenossen unseren Respekt zu zollen, die sich am 9. April 1388 in eklatanter Unterzahl dem feindlichen habsburgischen Heer entgegenstellten – die im garstigen Schneetreiben für Frieden und für Unabhängigkeit kämpften. Laut Chronik bestand die feindliche Übermacht aus rund 600 Mann zu Pferd und 6000 Mann zu Fuss. Demgegenüber standen auf Glarner Seite zunächst nur etwa 200 Mann bereit. Und erst als es schon Matthäi am Letzten war, wuchs die Truppe auf 600 bis 700 Freiheitskämpfer. Ein paar Hundert tapfere Krieger, denen dank Mut, Entschlossenheit und einer findigen Strategie der Sieg gegen die zehnfache Übermacht gelang. Wenn auch mit herben Verlusten: 55 Menschen der Glarner Truppe verloren ihr Leben. Sie opferten es in der schieren Hoffnung auf eine freiheitliche und friedliche Zukunft. 

In den darauffolgenden Jahren und Jahrhunderten wurden sie erfüllt, die damaligen Hoffnungen. Und zumindest für uns in der Schweiz ist ein Leben in Frieden und Freiheit gefühlt nach wie vor Realität. Deshalb spreche ich von einem Privileg, wenn ich hier durch die Reihen schaue und über unsere prächtige Bergkulisse blicke. 

Ich kann das einigermassen entspannt tun, während gar nicht sehr weit entfernt von uns der blanke Schrecken regiert, und sich Ähnliches abspielt, wie vor gut 630 Jahren hier auf dem Feld: barbarische Angriffe, abscheuliche Übergriffe, erbittertes Ringen um Leben und Tod. Was für ein Kontrast! Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt in Israel ist nach dem Terrorangriff der Hamas Anfang Oktober des letzten Jahres auf brutalste Art und Weise eskaliert. Die Sicherheitslage im Nahen Osten ist seither so instabil wie schon lange nicht mehr. Und wir wagen uns nicht auszudenken, was noch geschieht, sollten die Kämpfe eskalieren und sich weitere Parteien bemüssigt fühlen, in den Konflikt einzusteigen. 

Auch in der Ukraine scheint das Schlimmste erst noch bevorzustehen. Nur gerade drei Flugstunden von hier tobt dieser grausame Krieg nun schon seit mehr als zwei Jahren. Täglich sterben Männer und Frauen – wie unsere Vorfahren verurteilt dazu, ihr Leben für Frieden und Unabhängigkeit zu opfern. Ob sich der Widerstand bis zum Ende behaupten kann, ist mehr als fraglich. Der russische Präsident und Kriegstreiber Wladimir Putin spricht offener denn je von einer Eroberung der gesamten Ukraine. Der Aggressor sieht sich auf der Siegerstrasse. 

Man muss es unverblümt sagen: Die Welt um uns herum ist innert kürzester Zeit eine andere geworden. Die beiden Kriege, die weltweit aktuell am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen, finden unmittelbar vor unserer Haustür statt. Wir sind hier im idyllischen Bergtal, in der beschaulichen Schweiz, längst keine Insel der Glückseligkeit mehr, die sich weit entfernt von den grossen Konflikten mit sich selbst beschäftigen kann. Im Gegenteil: Das über Jahrzehnte als besonders friedlich geltende Europa ist im Brennpunkt. Kaum jemand hätte vor zweieinhalb Jahren gedacht, dass Kriege um die Vorherrschaft in Europa wieder möglich sein würden. Dass autoritäre Regimes plötzlich auf dem Vormarsch sind. Und dass scheinbar überwundene Vorurteile wie der Antisemitismus erneut auftauchen. Die Realität ist in Tat und Wahrheit leider eine bittere, und unsere Privilegien – Demokratie, Freiheit und Wohlstand – sind in Gefahr. 

Die entscheidende Frage ist, wie wir dem Unheil begegnen. Oder besser gesagt, was wir ihm entgegnen. Tatenlos hinnehmen ist jedenfalls keine Option. Und so kann die Antwort doch nur lauten, dass wir der Bedrohung als Gemeinschaft widerstehen. Indem die europäischen Demokratien noch näher zusammenrücken, ihre Kräfte weit stärker bündeln und den Gegner viel entschlossener in die Schranken weisen. Die Schweiz ist Teil dieser Gemeinschaft, und es darf nicht sein, dass sie abseits steht und für den Fall der Fälle genügsam auf die Schützenhilfe anderer zählt. Wir müssen unseren Beitrag leisten, unsere Sicherheitspolitik neu denken und vor allem auch unsere Verteidigungsfähigkeit so schnell wie möglich verbessern. Das erfordert nicht nur rasch mehr Investitionen in die Stärkung der Armee, sondern auch eine engere Kooperation mit dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis, der Nato. Setzen wir jetzt die richtigen Prioritäten! 

Hochvertraute, liebe Mitlandleute. Sicherheit und Stabilität sind genau wie Wohlstand und Freiheit ein riesiges Privileg. Angesichts der Kriege und Krisen, mit denen wir unmittelbar konfrontiert sind, wird einem das erst richtig bewusst. Natürlich ist es nichts als menschlich, wenn man auf die düsteren Nachrichten mit Angst, Wut oder Zynismus reagiert. Es ist jedoch falsch, ja gar kontraproduktiv, sich auch noch der Hoffnung berauben zu lassen. Denn immerhin hat genau sie uns so weit gebracht, dass wir heute in einem der reichsten Länder der Welt leben dürfen; dass wir eine Lebensqualität haben, um die man uns im Ausland bewundert, vielleicht sogar beneidet. 

All dies zu erreichen erforderte harte Arbeit der Generationen vor uns und braucht die Entschlossenheit von uns selbst. Die Erfolgsfaktoren sind bekannt: Die hohe Arbeitsmoral etwa, die hierzulande herrscht. Die unternehmerische Denkart, die Innovationen vorantreibt. Der liberale Rechtsrahmen, der Freiräume, einen flexiblen Arbeitsmarkt und Wettbewerb zulässt. Oder das konsequente Pflegen und Weiterentwickeln unseres politischen Systems. Wenn die Bürgerinnen und Bürger mitreden und mitgestalten können, dann stiftet dies Identität – und zusammen mit dem Föderalismus bringt es politische Stabilität. 

Der entscheidende Treiber für unseren Erfolg dürfte unsere enge Vernetzung mit der Welt sein. Als Glarnerinnen und Glarner mit unserer Geschichte sind wir diesbezüglich freilich sensibilisiert, dank des Wirtschaftswunders, das dieser Kanton während der Hochblüte der Textilindustrie erlebt hat. Unsere Offenheit hat uns zu Prosperität verholfen. Und ohne sie stünden wir heute mit Sicherheit nicht da, wo wir eben stehen. Selbstverständlich ist unser Land bis jetzt immer am besten gefahren dank Unabhängigkeit. Aber nur, weil wir die Unabhängigkeit nie mit Abschottung verwechselt haben. 

Ich erachte es als unsere Bürgerpflicht, diese Tugenden mehr denn je zu leben und trotz der düsteren Aussichten zuversichtlich zu bleiben. Das heisst mitnichten, dass ich die aktuelle Weltlage schönreden will. Vielmehr möchte ich uns alle motivieren, es den Kämpfern von 1388 ideell gleichzutun. Sie hatten extrem schwierige Umstände. Aber sie hatten eine Siegermentalität. Sie strotzten vor Zuversicht. Und sie handelten vorbildlich. 

Sie alle, die heute an der Fahrtsfeier teilnehmen, demonstrieren mit Ihrer Anwesenheit, dass Ihnen unsere schweizerischen Werte wichtig sind. Dass wir uns auch in einer trostlosen Situation nicht hilflos und ohnmächtig zeigen, sondern uns mit aller Kraft für unsere Freiheiten einsetzen. Unser heutiges Zusammenkommen ist ein starkes Zeichen für das Miteinander und für den Frieden. Unsere Zuversicht reicht bestimmt nicht aus, um die Welt besser zu machen. Aber ohne Zuversicht wird sie es garantiert nicht. 

In diesem Sinne bitte ich für Land und Volk von Glarus um den Machtschutz Gottes.