Flüchtlingsströme – Martin Beglinger referierte

Wie sich Flüchtlingsschicksale, Migrationsbemühungen, politische Diskussionen und zumeist gescheiterte Auseinandersetzungen bei eigentlich notwendigen, zielführenden Diskussionen an Konferenzen auf höchster Ebene inhaltlich gleichen, was Machtgehabe, Erwartungen, Ansprüche und Forderungen auszulösen vermögen, war Inhalt eines Referats des NZZ-Redaktors Martin Beglinger.



Fridolin Elmer
Fridolin Elmer

Der in Glarus Wohnhafte referierte auf Einladung der Anna-Göldi-Stiftung in der Landesbibliothek Glarus. Das Fazit war ernüchternd, beklemmend, zu viel wiederholt sich. Aus begangenen Fehlentscheiden lernen die Entscheidungsträger derartiger Prozesse nichts bis sehr wenig.

Eigentlich sind die Inhalte um Flucht, Krieg, Ungerechtigkeit, Zerstörung und Wiederaufbau, Integration, gnadenlose Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, Personen aus andern als den unsrigen Kulturkreisen oder fremden Glaubensrichtungen allen bekannt. Es fehlen so viel Toleranz, Respekt, Geduld, Einsicht, finanzielle Mittel, Fähigkeit des Zuhörens und gemeinsamen Handelns, dass sich so Unnötiges, Belastendes, Grauenhaftes und Ungerechtes zu oft wiederholt. Aufnehmende Länder sind angesichts der Massen an Flüchtlingen schlicht überfordert. Sie haben diese Menschen – den guten Willen und eine gewisse grosszügige Gastfreundschaft vorausgesetzt – aufzunehmen, sich mit brutalem Extremismus aus diesen Kreisen und nicht selten verständlichen Widerständen der eigenen Einwohnerschaft, Reaktionen von Nachbarstaaten praktisch dauernd auseinanderzusetzen – im Wissen, dass Lösungen zuweilen kaum möglich sind.

Die Anna-Göldi-Stiftung – so Moderator Fridolin Elmer bei seiner einleitenden Begrüssung – sei bestrebt, sich auch mit politisch Aktuellem zu befassen, zu sensibilisieren, etwas von dem weiterzutragen, was Anna Göldi betroffen habe. Willkommen hiess er unter anderem den Historiker Walter Hauser, Präsident der Stiftung; Peter Bertschinger, Projektleiter des Arbeiten ums Anna-Göldi-Museum, das am 18. und 19. August eröffnet werde; Dr. Brigitte Weibel, Gemeinderätin aus Glarus Süd und Mitverantwortliche des Projekts FRAMI (Freiwilligenarbeit im Migrationsbereich); eine Delegation von Amnesty International, angereist aus Rapperswil und weitere Personen. Einen grossen, herzlichen Dank richtete er an die Hauptverantwortliche der Landesbibliothek, Petra Imwinkelried, die so viel zum nachhaltigen Gelingen des Anlasses beigetragen hatte.

Martin Beglinger befasste sich im Verlaufe seines Referats und mit Bezug auf das Magazin «NZZ Geschichte» auf riesig interessante, offene und starke Art mit der «Flucht in die Karibik». Er rückte das Schicksal der um 1938 aus Deutschland und Österreich flüchtenden, von der Vernichtung bedrohten Juden und die Machtspiele der politisch Herrschenden und Bestimmenden – und damit die Flüchtlingspolitik in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts – in den Mittelpunkt. Die Evian-Konferenz im Jahre 1938 gab ihm Anlass, dieses Thema aufzunehmen, zu recherchieren. Eigentlich – so der Referent – sei die Konferenz so verlaufen, wie viele andere auch, nämlich ergebnislos. 32 Länder nahmen an dieser Konferenz, in der es um das Schicksal von 260 000 vom Tod bedrohten jüdischen Flüchtlinge ging, teil. Damals war Hitler seit fünf Jahren an der Macht. In den USA regierte Franklin Roosevelt. Er wusste, dass – als Folge des intern starken Drucks – unbedingt etwas unternommen werden musste. Die Schweiz war durch Heinrich Rothmund, dem kompromisslos und hart argumentierenden und handelnden Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei vertreten. Zur Konferenz, die zehn Tage dauerte, waren 36 jüdische Delegationen eingeladen, sie durften lediglich zuhören.

Beglinger merkte an, dass ein Expertenteam mit US-Diplomaten auf allen Teilen unserer Erde rund hundert Plätze ausgekundschaftet habe, um die verfolgten Juden platzieren zu können. Das verlief ergebnislos. Beglinger zeigte auf, wer wie viele Flüchtlinge aufnahm. Das waren Länder in Nord- und Südamerika, Südafrika und Palästina (weil England viele dorthin schickte). Das Bildmaterial war willkommen verdeutlichend.

Von den 32 in Evian teilnehmenden Staaten reagierten deren 31 ablehnend. Arbeitslosigkeit, leere Staatskassen, drohender Ausbruch des Kriegs, Lösung interner Probleme wurden geltend gemacht.

Ein Land verhielt sich – unerwartet – ganz anders. Es war die Dominikanische Republik mit ihrem diktatorisch regierenden Staatspräsidenten Raffael Trujillo. Er erklärte sich zur Aufnahme der Flüchtlinge aus Gründen bereit, die Beglinger transparent machte. Zwei Bedingungen wurden gestellt: Es sollen nur junge, arbeitstüchtige Leute und gebärfreudige Frauen aufgenommen werden. Es werde nichts bezahlt. Alle müssten als Bauern arbeiten. Lediglich das Land werde zur Verfügung gestellt. Mit diesen Vorbedingungen wurden auch im schweizerischen Flüchtlingslager Diepoldsau geeignete, Trujillos Forderungen entsprechende Leute ausgewählt.

Beglinger stellte die schillernde Figur des dominikanischen Staatspräsidenten vor. Er habe als Kleinkrimineller begonnen, im Militär Karriere gemacht, sei ein riesiger Rassist gewesen und habe unter Haitianern in seinem Lande ein riesiges Massaker zugelassen. Er wollte mehr weisse Menschen in seinem Land.

Beglinger befasste sich auch mit Verantwortlichen, die für diese Wechsel in die Karibik verantwortlich waren. Unter ihnen war beispielsweise der Russe Joseph Rosen, der seinerzeit auf Befehl Stalins Städter, russischstämmige Juden, auf die Krim umzusiedeln hatte, sie sollten als Bauern tätig werden. Als das scheiterte, wechselte er seinen Arbeitsort.

Gemäss Beglinger erreichte die erste Siedlergruppe im Jahre 1940 den kleinen Ort Sosua auf der karibischen Insel. Alles musste eigenhändig aufgebaut werden. Im Bereich der Milchwirtschaft wurden Erfolge erzielt. Es kamen insgesamt 750 Personen an – weit weniger als Trujillo gewollt hatte.

Nach diesen Ausführungen wechselte Beglinger zum Thema «Aufnahme der vietnamesischen Boat-People». Anlässlich einer drei Tage dauernden Konferenz in Genf wurde unerwartet rasch und positiv gehandelt. US-Amerika sagte mit dem damaligen Präsidenten Carter zu, 100 000 Flüchtlinge ohne irgendwelche Bedingungen aufzunehmen. Unser Land nahm etwa 5000 Vietnamesen auf.

Dann war es Zeit für Fragen, Kommentare, Weiterführendes. Hier einige Anmerkungen:

Trujillo beutete die Leute zuweilen schamlos aus, er wurde anno 1960 ermordet. – Die Befindlichkeit eines Flüchtlings kann man kaum nachempfinden. – Es ist doch auffallend, wie viele Flüchtlinge in den Nachbarländern von Syrien Aufnahme gefunden haben und wie stark sich andere Länder – beispielsweise aus der EU – weigern, irgendwelche Leute aufzunehmen. – Es ist für uns ganz schwierig, zwischen Kultur und Religion aus Staaten mit vielen Flüchtlingen zu unterscheiden.

Verantwortliche von Amnesty sprachen zu einer Petition, die sie beim Bundesrat einreichen, um sich für eine Besserstellung von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln einzusetzen.

Katja Weibel stellte das Projekt «Freiwilligenarbeit im Migrationsbereich» (FRAMI) vor.

Walter Hauser, Präsident der Anna-Göldi-Stiftung, verdankte Beglingers Ausführungen und wies auf die am 18. und 19. August stattfindende Eröffnung des Anna-Göldi-Museums hin. Stets werde man bemüht sein, Fragen zum Menschenrecht zu thematisieren.

Martin Beglinger erhielt aus den Händen von Fridolin Elmer verdiente kleine Präsente bevor zu einem teilweise langen und guten Gedankenaustausch gewechselt wurde.