Gemeinsame Suchbewegungen nach Authentizität

Ganz dem Thema «Literatur zwischen Fakten und Fiktion» folgend, erhellte sich den Gästen an den zweiten Braunwalder Literaturtagen, dass den noch so unterschiedlichen Faktenvorlagen in deren Verarbeitung viel Gemeinsamkeit steckt. Doch wie Schriftsteller aus historischen oder familieninternen Zeugnissen einen Text gestalten, liegt ganz in der Individualität des Einzelnen.



Im Gespräch vereint die vier Schriftsteller (von links): Christian Haller
Im Gespräch vereint die vier Schriftsteller (von links): Christian Haller

Dass die zweiten Literaturtage gleich mit einem frisch gekürten Preisträger beehrt wurden, war nicht so geplant, daher umso erfreulicher. Der Berner Schriftsteller Lukas Hartmann erhält den ersten grossen Literaturpreis von Stadt und Kanton Bern mit der Begründung, dass er «ein reichhaltiges und zugleich in sich geschlossenes Werk, das minutiös recherchierte historische Stoffe packend präsentiere …» bisher geschaffen habe, und er auch «immer wieder ein besonderes Augenmerk auf die Geschichte Berns gelegt (hätte)». Am Donnerstag kamen drei Werke mit historischen Grundstoffen zur Lesung und Diskussion, freitags deren drei mit persönlich-familiären Bezügen. Gemeinsam allen sechs ganz unterschiedlichen Texten sind als Drehpunkt vorhandene Fakten, die durch fiktive Ergänzungen das nicht Belegte ergänzen. Es geht darum, wie der Diesbacher Historiker August Rohr in der Diskussionsrunde treffend erläuterte, dass Historiker die vorhandenen Informationen, ganz der Authentizität verpflichtet, ergänzend wiedergeben, den Dichtern jedoch die Freiheit zusteht, in den Zwischenräumen zu flunkern.

Aus Erinnerungsfragmenten Kompositionen gestalten

Wie nahe Historie und Dichtung, Autobiografie und Roman sich sind, darum kreisten die Gespräche an den beiden Tagen, immer wieder dem Kernpunkt sich annährend – gewollt oder ungewollt –, dass letztlich aus Erinnerungsfragmenten eine Komposition entsteht. Eine Komposition der individuellen Ursächlichkeit, jedoch ganz dem Stoff verpflichtet.

Ausgehend von Lukas Hartmann, der in seinem Werk «Bis ans Ende der Meere», die Reise des Berner mit anglisiertem Namen John Webber beschreibt, wie er als journalistischer Maler Kapitän Cook auf dessen dritten Reise begleitete, wie im Werk Alex Capus «Eine Frage der Zeit» über die drei deutschen Werftarbeiter aus dem Emsland am Tanganikasee oder in der Trilogie Christians Hallers mit der Auseinandersetzung familieninterner Geheimnisse, deren Aufdeckung zu einer völlig veränderten Sichtweise führte, allen sechs Autoren ist verwandt, dass das Schreiben eine ganz persönliche Suche war, wodurch sie – mit einer Ausnahme – Versöhnung und/oder Befreiung erfuhren.

Der kreative Suchprozess fordert von allen Kunstschaffenden enorm viel Kraft, ähnlich einer therapeutischen Sitzung, die es letztlich auch ist. Mit dem Unterschied zur professionellen Psychotherapie durchleben die Kunstschaffenden jedoch im Gestalten ihrer Werke einen selbsttherapeutischen Akt. Und dies ist auch immer wieder Ausgangs- und Drehpunkt, der die Kunstschaffenden zu neuen Werken hinführt, ihnen oftmals Themen in die Hand legt, oder wie es Klara Obermüller als Moderatorin der Literaturtage zitierte: «So könnte es gewesen sein, auch wenn es nicht so ist.» Doch letztlich ist die daraus resultierende Befreiung von Belastendem und – mögliche späte – Versöhnung der ganz persönliche Erfolg des eigenen Tuns.