Illettrismus – wenn Lesen und Schreiben keine Selbstverständlichkeit mehr sind

Unlängst lud der Soroptimist Club Glarnerland – momentan von Andrea Trümpy aus Glarus präsidiert – in Zusammenarbeit mit dem Verein Lesen und Schreiben, Deutsche Schweiz zu einem öffentlichen Vortrag ein. Was der Begriff «Illettrismus» bedeutet und für rund 800 000 davon betroffene Erwachsene zur Folge hat, zeigte Brigitte Aschwanden auf.



Brigitte Aschwanden
Brigitte Aschwanden

Andrea Trümpy begrüsste die kleine, spürbar interessierte Schar an Gästen; unter ihnen auch einige Personen aus anderen Clubs. Der Soroptimist Club unterstützt das Projekt «Illettrismus» mit willkommenen finanziellen Beiträgen. Die Stadtglarnerin Valeria Zubler – sie führt mit anderen Fachleuten ein Lernatelier in der Landesbibliothek Glarus – und wird ab Herbst dieses Jahres Nachfolgerin von Andrea Trümpy, lernte die Referentin vor gut acht Jahren im Bernischen kennen. Deshalb wurde dieses Auseinandersetzen auch möglich.

Lesen und Schreiben sind in unserem Leben von zentraler Bedeutung. Die Anforderungen an diese Kompetenzen sind gestiegen. Bestehen Einschränkungen, Schwächen, resultieren nicht selten Resignation, Furcht vor dem Versagen, Verdrängungsmechanismen, Stress, fehlendes Selbstvertrauen und die Angst, über diese verständlich belastende Beeinträchtigung zu reden, zuzugeben, dass halt nicht alles wie gewünscht läuft. Und nicht selten wird auf bestehende, leider zu wenig stark bekannte Hilfsangebote verzichtet – obwohl das Sinn macht. Hatte man im Verlaufe der langen Schuljahre zu wenig Chancen sich mit Lesen und Schreiben derart auseinanderzusetzen, dass es beim Erlernen des Berufs, der späteren Karriere, dem Verstehen und Begleiten von Schulpflichtigen in der eigenen Familie, dem Verstehen von Weisungen, dem Verfassen eines Arbeitsrapports, dem Studium von Fachliteratur, dem genüsslichen oder kritischen Lesen eines Buchs oder einer Zeitschrift möglichst konfliktfrei klappt, ist Negatives wie vorprogrammiert. Man legt Belastendes weg, vergisst einst Erlerntes. Und schon ist man von Negativem umgeben. Man versteht nicht mehr alles gut genug, kann sich zu wenig klar ausdrücken. Man zieht sich zurück und gehört plötzlich zu jenen rund 800 000 Personen zwischen ungefähr 16 bis 65 Jahren, die unter Illettrismus leiden.

Betroffene stammen aus verschiedensten Kulturen und Sprachräumen, 325 000 sind gemäss einer länger zurückliegenden Studie Schweizerinnen und Schweizer. Sie werden nicht im Stich gelassen, wenn sie Hilfe suchen, damit bereit sind an dieser Beeinträchtigung zu arbeiten. Aber es braucht gehörig Mut, über Derartiges zu reden, zuzugeben, dass diese Kompetenzen nicht wie erwartet vorhanden sind. Es wird in der Folge mit der erforderlichen Diskretion und Sorgfalt geholfen. In allen Teilen unseres Landes sind passende Kursangebote vorhanden. Unter www.lesen-schreiben-d.ch wird kompetent informiert.

Illettrismus wurde bekannter, nachdem sich beispielsweise André Reithebuch outete und von Erlebnissen und Erfahrungen zu sprechen begann, mit bemerkenswerter Offenheit zeigte, dass Lesen und Schreiben nicht für alle wünschbare und erwartete Selbstverständlichkeit ist.

Mit Beginn des kurzen, gute Impulse vermittelnden Referats wurde mit Filmsequenzen eingestimmt. Und wenig später hatte man Zeichen zuzuordnen, damit gelesen und verstanden werden konnte. Es wurde gezeigt, dass bewusst versetzte Buchstaben in Wörtern nicht sinnentstellend sein müssen, dass man sich im Bereich des Textverständnisses verschiedenste Strategien aneignet. Nicht Interessierendes oder «Fachchinesisches» liest man flüchtig; zuweilen liest man etwas mehrmals, man schlägt Fachbegriffe oder Fremdwörter nach; man lässt sich helfen; man notiert sich etwas raus und bis das alles perfekt sitzt – so die Referentin – dauere das gut und gerne 15 Jahre.

Lesen und schreiben können alle, zuweilen einfach mit belastenden Einschränkungen, die im schlimmsten Falle dazu führen, dass man seinen Wunschberuf nicht erlernen kann oder eine Karriere abrupt endet. Um begreiflich Frustrierendes abzubauen, im Idealfall sogar zu bewältigen, muss Hilfe in Anspruch genommen werden. Professionell tätige Instanzen begleiten auf diesem Weg.

Es wurde in diesem Zusammenhang auf den Fonds für Frauen in prekären Verhältnissen hingewiesen. Dieses Projekt läuft über zwei Jahre hinweg bis 2018 und wird von den Soroptimistinnen Schweiz nachhaltig mitgetragen.

Eine recht intensive Fragerunde ergab sich. So wurde von berufener Seite aufgezeigt, welche Hilfen an unseren Schulen aufgebaut und angeboten sind. Es wurde darauf hingewiesen, in welcher Form mit Gesprächen und Arbeit in Kleingruppen unter Wahrung der Diskretion vorgegangen wird. Man redete über die Macht der herrschenden und beherrschenden Digitalisierung und über die Heterogenität der Schulen. Allen wurde klar, dass der Illettrismus breiter bekannt gemacht und Artikelwahrgenommen werden muss. Es zeigte sich, dass nur in kleinen Schritten anhaltende Verbesserungen erreicht werden können.

Mit einem kleinen Präsent wurde der willkommen offen argumentierenden Referentin gedankt. Der Soroptimist Club Glarnerland vermochte mit diesem ganz besonderen Engagement in guter Art zu sensibilisieren.