Netstaler leben mit Lawinen

Die Netstaler leben seit jeher mit «ihren» Lawinen. Urgewalten, welche schon manchen «Schamauch» allein schon beim Erzählen in Angst und Schrecken versetzten. Für die Bewohner des Dorfes am Fusse des Wiggis gehören diese spektakulären Naturereignisse schon beinahe zur Gewohnheit.



Auch am letzten Samstag lösten sich ob Netstal zahlreiche Lawinen. (Bilder: hasp.)
Auch am letzten Samstag lösten sich ob Netstal zahlreiche Lawinen. (Bilder: hasp.)

Der Gefahren bewusst, begegnen die Menschen im «Lauidorf» diesen Naturgewalten mit grossem Respekt, aber trotzdem mit stoischer Ruhe. Schon in der Schule lehrt man die Kinder, wie sie sich verhalten sollen, falls sie einmal in eine Staublawine geraten. Da heisst es, sich sofort auf den Boden legen, mit den Armen oder Händen den Kopf schützen und versuchen, die Atemwege einigermassen freizuhalten. Vor allem die Ruhe bewahren, auch wenn wegen der Druckwelle im ersten Moment das Atmen schwerfällt. Wenn die Zeit noch reicht, sich in einen Hauseingang oder einen Unterstand retten. Doch meistens ist es zu spät. Die Staublawine kommt schnell, sehr schnell sogar und vor allem lautlos wie ein schleichendes Gespenst mit riesigen Armen, wie eine Krake, breit um sich greifend, kalt und zerstörend.

Wann besteht die Gefahr eines Niedergangs?

Mit mathematischer Sicherheit, vor allem dann, wenn es über Tage ununterbrochen geschneit hat, lösen sich an den Hängen der Wiggiswand, manchmal von selbst, ungeheure Mengen aus Schnee, Eis und Geröll – ein nicht ganz ungefährlicher Mix, bei dem es schon Verletzte gab und welcher grosse Sachschäden verursachte. Tote gab es zum Glück in all den Jahren nie zu beklagen. Diese für Auge und Ohr spektakulären Naturereignisse können im Winter und zu Beginn des Frühlings im Einzugsgebiet des Wiggis immer wieder beobachtet werden. Kleinere Rutsche – die Netstaler reden da von einer «Schnurrä voll» – und gewaltige Abbrüche lösen sich auf der gesamten Länge entlang des Wiggis-Rauti. Eine der gefährlichsten Lawinen ist jene, welche sich oberhalb der Auernalp vom Arschband löst und entlang der Butzirunse mit ungeheurer Gewalt ins Tal fällt. Bei dieser Lawine gab schon, ich mag mich gut erinnern, Firnzungen, welche sich gefährlich nahe bis wenige Meter dem Schiesstand und den ersten Häusern bei der Rütigasse näherten. Für die Bevölkerung eher weniger gefährlich ist die «Plänggli-Laui», welche über die ganze Länge der riesigen Plänggliwand ins Tal fällt und am Ende der Wand einen riesigen Firn aufbaut. Die Berühmteste und Berüchtigste ist aber definitiv die «Altiger-Staublaui», welche jeweils lautlos und mit zerstörerischer Kraft mitten durch das Dorf Netstal braust und auf der anderen Talseite beim «Elggis» wieder zurückgeschlagen wird. Spektakulär und eindrücklich sind immer wieder die weit weniger gefährlichen Grundlawinen. Mit viel Getöse kündigen diese jeweils den Frühling an. Da bilden sich dann jeweils am Fusse beim Altiger-Hügel, bei der Ädirunse und bei der Brandrunse riesige Firnfelder aus kompaktem Schnee, Geröll und Eis. Schon manchmal kamen im Frühling zu Beginn der Schneeschmelze sogar tote, vom Firneis konservierte Gemsen zum Vorschein. Die nachstehenden Erzählungen und Erlebnisberichte sollen ein Versuch sein, den Lesern die ungebändigten Kräfte, welche die Natur, im Speziellen diese Lawinen entfalten, ein wenig spüren zu lassen.

Staubiges Erlebnis eines Deutschen

Es war an einem wunderschönen, klirrendkalten Sonntagmorgen im Januar irgendwann in den 60er-Jahren. Die 1800 Meter hohe Wiggiswand, samtweich von der Morgensonne beschienen, zeigte sich in atemberaubender Schönheit. Mein Schulkamerad Anschi und ich traten eben durch das Aussenportal der Netstaler Dreikönigs-Kirche – der Sonntagsgottesdienst war eben mit dem Segen von Pfarrer Barmettler zu Ende gegangen – als sich hoch oben beim «Oberen Bockband» eine Lawine loslöste. Langsam immer grösser werdend, bewegte sie sich majestätisch über die «Liichbrittern» in Richtung «Höchwand». Wir beide erkannten sogleich, dass es sich bei dieser Lawine um ein grösseres Kaliber handelte und das Potenzial hatte, durch unser Dorf zu brausen, um dann an den Hängen des «Elggis» wieder zurückgeschlagen zu werden. Dies war Grund genug, uns beim alten Konsum in Sicherheit zu bringen. Dieses einmalige Naturschauspiel wollte sich ein Fahrzeugführer in einem dunkelgrünen VW-Käfer mit deutscher Immatrikulation natürlich nicht entgehen lassen. Schleunigst behändigte er sich auf dem Beifahrersitz eine Filmkamera und wollte dieses nicht alltägliche Ereignis auf Zelluloid bannen. Dazu positionierte er sich vor der offenen Beifahrertüre. Wir sahen, wie die Staublaui auf dem Altiger-Büchel aufschlug und die gewaltigen Schneemassen sich kurz auftürmten und mit unglaublichem Tempo Richtung «Voräbühl» bewegten. Schon war der Stall im Kilchengut nicht mehr zu sehen. Wir brachten uns beim Haupteingang des Konsums in Sicherheit und schon war sie da, die berühmt berüchtigte Altiger-Staublaui. Es wurde urplötzlich stockdunkel, die Druckwelle nahm uns beinahe den Atem. Als Schulkinder hatte man uns gelehrt, falls man jemals in eine Staublawine kommen sollte, sich auf den Boden zu legen und im Schutze der Arme sich Mund und Nase abzudecken, damit man trotzdem einigermassen atmen konnte. Der ganze Spuk war nach kurzer Zeit vorbei. Der Schneestaub hatte sich mittlerweile verzogen. Zurück blieben die mit betonhartem Schnee verklebten Häuser im Zentrum von Netstal. Doch wo blieb unser deutscher Fahrzeugführer? Besorgt kamen wir aus unserer Deckung. Was wir zuerst sahen, waren zwei Füsse, die aus der Beifahrer-Türe ragten. Wir gingen hin zum komplett mit Lawinenschnee bedeckten Auto. Da lag unser VW-Mann rücklings in seiner ganzer Länge auf dem Beifahrersitz, völlig verstört und mit einem Schock in seinem mit betonhartem Schnee verklebten VW-Käfer. In der Zwischenzeit stiessen noch weitere Kirchengänger dazu und halfen dem Unglückseligen wieder auf die Beine. Ob mit dem Staublaui-Film etwas geworden ist, weiss niemand. Bestimmt wird sich aber unser Freund aus dem grossen Kanton mit Schaudern an dieses staubige Naturspektakel in Netstal zurückerinnern.


Grösstes Lawinenunglück im Jahr 1817


Gefährlich für das Dorf Netstal werden oft nach starkem Schneefall die mächtigen Lawinen, die von den steilen Felswänden des Wiggis herabfallen. Die Schlimmste, von der wir Kunde haben, war diejenige im Jahre 1817. Ein Augenzeuge schildert dramatisch das Ereignis mit folgenden Worten:

«Wir Kinder gingen morgens um acht Uhr zur Schule. Der Schnee lag fusshoch. Es schien, als wäre Regenwetter im Anzuge. Alles hatte Furcht vor Lawinen. Kaum waren wir eine halbe Stunde im Schullokal im oberen Stock des sogenannten «Stüblihauses», als plötzlich mit donnerartigem Gekrache stockfinstere Nacht eintrat. Wir meinten, der Jüngste Tag wäre gekommen und weinten und heulten fürchterlich. Als es wieder hell wurde, sahen wir, dass unser Schulhaus seines Daches beraubt und das Treppenhaus weggeschleudert worden war, sodass wir Kinder mittels Leitern heruntergebracht werden mussten. Und welchen Anblick bot uns das ganze Dorf dar! Die meisten Häuser waren teilweise zerstört. Hunderte von Bäumen waren entwurzelt und weit von ihrem Standort weggetragen. Der Schaden war amtlich auf 150 000 Franken heutiger Währung geschätzt. Von dieser grossen Lawine des Jahres 1817 wird man nach hundert Jahren noch reden.»

Text aus «Bilder aus der Geographie und Geschichte des Kantons Glarus» – Lesestücke für die Mittel- und Oberklasse der glarnerischen Primarschule 1906. Mittlerweilen sind fast 200 Jahre vergangen und wir erinnern uns erneut an dieses, für Netstal grösstes Lawinenunglück. Es gab immer wieder Lawinen-Niedergänge, die kleinere und grössere Schäden an Kulturen und Objekten anrichteten. Viel Glück hatten die Netstaler an einem Samstagmorgen im Februar 1973, als kurz vor acht Uhr morgens eine gewaltige Staublawine im Dorfzentrum riesigen Schaden anrichtete. In der Chronik «100 Jahre Feuerwehr Netstal» ist zu lesen:«Gleich der Anfang des neuen Jahres hatte es in sich: Von einem speziellen Ereignis erzählt heute noch unser damaliger Spätheimkehrer und eifriger Feuerwehrmann Sigi L., als an einem Februar-Samstag im Jahre 1973 um acht Uhr morgens sein eben begonnener Schlaf jäh wegen einer durch das Dorf brausenden Staublawine unterbrochen wurde. Mit unglaublicher Gewalt wurde das Dach über seinem Kopfe einfach weggefegt. In Mitleidenschaft gezogen wurden auch die Häuser in der Nachbarschaft. Zum Glück gab es weder Tote, noch Verletzte. Einzig das Brummen des Schädels von Sigi und sein veritabler Kater nach durchzechter Nacht gebrauchten anschliessend noch die entsprechende Pflege. Schuld an seinem Unwohlsein waren aber weder die Netstaler Staublawine, noch das auf dem Postweg liegende Dach. Für die anschliessenden aufwendigen Aufräumarbeiten und die Notbedachungen war die Feuerwehr Netstal zuständig.» Sportplatzanlagen zerstört

In den Jahren 1973 und 1986 zerstörten Staublawinen die Sportanlagen auf der Hinter Allmeind. Die Ballfänger beim Sandplatz und auf dem Fussballplatz wurden bodenerdig platt gedrückt. Der Besitzer eines Grillwagens fand sein Gefährt rund 200 Meter vom ursprünglichen Standort wieder bei der Friedhofmauer, platt gedrückt und vollständig zerstört. Ungeheure Kräfte müssen hier gewütet haben. Die gleichen Lawinen führten auch dazu, dass der Schulbetrieb aus Sicherheitsgründen gleichentags eingestellt wurde, nachdem zersplitternde Scheiben am Schulhaus einige Schüler verletzten.