Palmsonntag 2020

Festtagsartikel von Pfarrerin Iris Lustenberger, Ennenda



Kirche Ennenda (Bild: zvg)
Kirche Ennenda (Bild: zvg)

Lieber Mitmensch

Ausnahmsweise erlaube ich mir, dich mit Du anzusprechen.
Wer du wohl bist, der du jetzt diese Zeilen liest? Was prägt deinen Alltag in dieser ausserordentlichen Situation?
Bist du einer jener glücklichen Menschen, die diese Zeit zu nutzen weiss für sich selbst? Möglicherweise warst du nahe an einem Burnout und bist froh, jetzt endlich Ruhe und Zeit für dich zu haben. Oder gehörst du zu jenen, die unter erschwerten Bedingungen Höchstleistungen erbringen müssen?
Welches Gefühl prägt diese Zeit für dich? Vielleicht hast du Angst und bist von deinen Liebsten getrennt. Ein tiefer seelischer Schmerz hat sich in dein Herz gegraben und es fällt dir schwer, innerlich zur Ruhe zu kommen und Frieden zu finden. Eine grosse Einsamkeit breitet sich aus. Oder erlebst du genau das Gegenteil? Dass du trotz körperlicher Distanz viel mehr seelische Verbundenheit erfährst, Interesse aneinander und gegenseitige Anteilnahme und Unterstützung?

Wenn du Zugang zu den modernen Medien hast und diese zu nutzen weisst: Wie findest du dich zurecht im Dschungel des riesigen Angebotes an Videos und Informationen?
Vielleicht bist du es leid vor dem Bildschirm zu sitzen und wünschst dir nichts sehnlicher als endlich wieder einmal einen echten, realen Kontakt von Mensch zu Mensch!
Du denkst an die Zukunft und fragst dich, wie lange das wohl noch so weitergeht. Umso schlimmer, wenn du zu Hause gerade die Hölle erlebst, ihr einander auf engem Raum auf den Füssen steht und die Luft dick ist. Und du dir nichts sehnlicher wünschst, als hinauszugehen, weit weit weg von allem! Auf in ein neues Leben!
Du machst dir Sorgen um deine Finanzen, um dein Geschäft, um das, was du mit viel Liebe aufgebaut hast. Aussichtslosigkeit, wo das Auge hinreicht. Oder gehörst du zu jenen, die gerade jetzt wahnsinnig viel Solidarität erfahren? Oder hast du das Glück, dass du dich nicht um deinen Lebensunterhalt sorgen musst?

Du bist vielleicht an einem Punkt angelangt, wo du dich fragst, ob du überhaupt noch das Leben führst, das du eigentlich führen willst. Du machst eine Standortbestimmung. Besinnst dich auf das, was für dich ganz persönlich das Wesentliche ist und merkst, dass du nie mehr darauf verzichten willst, eins ums andere in Ruhe angehen zu können. Es kann sein, dass du erkennst, dass du die Wahl hast, andere Wege einzuschlagen als bis anhin.
Wie mag es dir wohl zumute sein, wenn du an Karfreitag und Ostern denkst? Wo fühlst du dich im Moment eher angesprochen? Im Leiden oder in der Freude? Karfreitag und Ostern gehören zusammen. Sie sind ein unzertrennliches Paar, wie Zwillinge. Steckst du mitten im tiefsten Leid, dann vergiss nicht, dass die Freude neben dir auf dem Stuhl sitzt und wartet, bis sie dran ist. Bist du im Sinne der Osterfreude fröhlich, dann weisst du, dass du immer die Kraft haben wirst, jede auch noch so tiefe Talsohle zu überwinden.

Vielleicht gehörst du zu jenen Menschen, die erkannt haben und jetzt erleben, was für eine starke Dimension die seelische und geistige Verbundenheit ist, die uns niemand nehmen kann. Es ist die Erfahrung von Auferstehung. Nämlich zu realisieren, dass Christus mehr war als sein physischer Körper und dass auch wir mehr sind als unsere physischen Körper: Seelisch-geistige Wesen, die ungeahnt mehr Kräfte und Möglichkeiten haben, als es uns bis anhin bewusst war.

Wer immer du bist, der du diese Zeilen bis zu Ende gelesen hast: Ich wünsche dir, dass du spürst, dass Gott dich in deinem Leiden mit grosser Empathie und grossem Wohlwollen wahrnimmt, dich trägt und hält. Ich wünsch dir, dass die Osterfreude sich in dir Bahn brechen wird und du trotz der auferlegten Distanz Verbundenheit erleben darfst. Verbundenheit mit allen dir Lieben, auch mit den dir Vorausgegangenen. Verbundenheit mit allen Elementen, Geschöpfen und Gewächsen der Erde. Verbundenheit mit der Unendlichkeit des Universums und der geistig seelischen Dimension des Lebens, in der du bei Gott zu Hause bist.