Richisauer Literatursommer mit Martin Walser

Für die Veranstalter, vertreten durch Gaby Ferndriger von Baeschlin Litteraire, war es eine grosse Ehre, Martin Walser im «Richisau» vor erfreulich vielen Zuhörern begrüssen und anschliessend seiner Lesung aus «Statt etwas oder Der letzte Rank» folgen zu dürfen.



Schriftstellerin und Moderatorin im «Richisau». Ganz viel Publikum im «Richisau». Martin Walser.
Schriftstellerin und Moderatorin im «Richisau». Ganz viel Publikum im «Richisau». Martin Walser.

Martin Walser gilt als letzter, ganz grosser Autor der deutschen Nachkriegsliteratur. Bis heute sind von ihm an die 60 Bücher in der deutschen Originalausgabe erschienen. Dazu kommen 15 Theaterstücke. Viele seiner Werke wurden übersetzt. Walser wurde mit zahlreichen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet, erwähnt seien der Preis der Gruppe 47 und der Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis. Sein Gesamtwerk ist beeindruckend, Welten umspannend. Im hohen Alter von beinahe 90 Jahren schrieb er den Roman «Statt etwas oder Der letzte Rank».

Die Begrüssung war herzlich. Zur Fahrt ins Klöntal meinte Martin Walser, dass der Titel seines Werks gut zum letzten Teil seiner Anreise passe. Es habe einige Zeit beansprucht, um auch den letzten Rank zu bewältigen.

Martin Walsers Lesung kam einem vielschichtigen, intensiven Begegnen mit Aussagen gleich, die ungemein wortstark, voller Innigkeit, Philosophien, Vermutungen, detailreichen Feststellungen und grandiosen Spielereien sind. Es wird bei einigen Aussagen verharrt, vermutet, weitergesponnen, mit einer Eleganz, die Staunen und grosse Anteilnahme auslösen, damit zum sorgsamen Lesen in einem Medium veranlassen, das in der Vielfalt leicht fassbarer, zu oft an Oberflächen verharrenden Informationen häufig zu verschwinden droht.

Martin Walser ist ein Wortmeister. Er lässt das Geschehen lebendig werden, formt es zu bisweilen enorm geheimnisvollen Bildern. Zum Mitvollziehen, Vermuten, Weiterspinnen, Innehalten fordert er in einer Weise auf, die als Einladung zum Eintauchen in diese Sätze, Fügungen, in die Verschiedenartigkeit aller Geschehnisse zu verstehen ist. Das liest sich keineswegs leicht, ist fordernd, birgt Spannung und Kurzweil, enthält Geheimnisvolles, hat zuweilen eine Leichtigkeit und Lieblichkeit in sich, die durchaus zum Schmunzeln und Lachen Anlass geben kann. Mit dem leidenschaftlichen, gefühlvollen Lesen aus verschiedenen der insgesamt 52 kurzen Kapitel machte Martin Walser auf den Reichtum dieses Romans nachhaltig aufmerksam – derart, dass er nach der Lesung und dem Tischgespräch mit der klug moderierenden Dana Grigorcea viele Bücher zu signieren hatte.

«Mir geht es ein bisschen zu gut. Seit dieser Satz mich heimsuchte, interessiere ich mich nicht mehr für Theorien … Ich merkte, dass mich auch das Umständliche nicht mehr interessierte.» Martin Walser ist sich gewiss, dass der Schöpfer einer Theorie nie ein Theoretiker ist.

Ansatzweise gab es in weiteren Kapiteln ein jeweils sehr knappes Auseinandersetzen mit Angst, Mut, Fehlern, wirklichen und eingebildeten Gegnern, Einteilung der Menschen in Sieger und Besiegte, Lautlehre, nächtliche Gespräche mit einer Unbekannten, den literarischen Himmel und dessen Pendant. Geheimnisvoll, zum Mitvollziehend animierend sind viele seiner Gedanken. Beispielsweise beginnt eines der letzten Kapitel mit: «Meine Gedanken sind ein braves Tier. Das sage ich immer laut, hoffend, das sogenannte Tier höre mich und bleibe brav.» Walser weckt – bildhaft – neue Wörter. Einer liest, man sieht das. Er schreibt von «Lippenbelebtheit». Er führt weiter aus, dass bei derartigem Lesen die Lippen geradezu aufblühen, die buchstabieren wollen, was man gerade liest. Er ist ein Wortvirtuose, ein Magier, der andere an seiner Kunst gar bereitwillig teilhaben lässt.

Die Moderation mit der Buchautorin Dana Grigorcea war zeitweise wie ein Weiterspinnen zahlreicher Passagen aus dem neuesten Roman, der von einem Menschen handelt, der sich freimachen will. Eigentlich sei es ein Entwicklungsroman, so Walser. Es sei durchaus ein Risiko, Romane zu verfassen. Ein Gestaltungskonzept habe er nie, ein Kapitel provoziere das nächste. Man spürte beeindruckend, dass die Moderatorin sorgsam fragte, eigene Meinungen einfügte, Antworten wollte. Walser nahm das bereitwillig auf. Theorie sei eine Lebenseinschränkung. Die Erkenntnis: «Ich bin – also bin ich» treffe durchaus zu. Dass er in die Nähe des Paulusbriefes, zu Glaube – Hoffnung – Liebe gerückt sei, verneinte er dezidiert. Seine Figur möchte dort gefunden werden, wo sie am liebsten ist. Noch äusserte sich Martin Walser zu einem mit grossem innerem Aufwand entstandenen Bericht über den verstorbenen Kanzler Kohl, erschienen im «Spiegel» – und schon war eine wertvolle, inhaltsreiche Zeitspanne vorbei, zu rasch, wie es vielen schien.