Spurlos in Neapel – Franco Supino las in Linthal

Auf Einladung der Verantwortlichen von Bäschlin littéraire las der in Solothurn lebende Schriftsteller Franco Supino unlängst im «Linthpark» Linthal. aus seinem Roman. Er entführte an den Fuss des Vesuvs – in eine wohl vielen fremde Welt, voller landschaftlicher und baulicher Schönheiten, erfüllt mit wirbligem Leben und dunklen Geheimnissen, die Supinos fiktive Romanfigur ergründen will. Man reist bereitwillig mit, taucht in oft Unerwartetes ein, das voller Leidenschaften ist. Supino schildert detailliert, oft temporeich, dann wieder Zeit zum Verweilen gestattend. Es tut sich eine faszinierende Welt auf.



(von links:) Swantje Kammercker, Franco Supino, Gaby Ferndriger
(von links:) Swantje Kammercker, Franco Supino, Gaby Ferndriger

Mit Beginn des Romans wird die Frage gestellt, was aus ihm – dem Namenlosen – geworden wäre, in der Stadt seiner Eltern. Sich in der Schweiz aufhalten, hier sesshaft, plagte ihn die Angst, alles – auch liebgewordene Freunde – verlassen zu müssen. Für ihn war es befreiend, dass 1980 in Süditalien die Erde gewaltig bebte und die Rückkehrpläne seiner Eltern scheiterten. Jahre später begibt sich der Erzähler nach Neapel, gewillt, dunklen Geheimnissen und Gesetzen auf die Spur zu kommen. Der Vater ist gestorben, es ist Zeit zum Aufbruch und dem Auseinandersetzen mit der Geschichte von Antonio Esposito, einem gestohlenen Migrantenkind aus Westafrika. Es wurde in eine Camorrafamilie aufgenommen, durchlebte eine kriminelle, risikoreiche Karriere und verschwand irgendwann einmal spurlos.
Was ist passiert in diesem leidenschaftlich lebenden Ort mit Kunstschaffenden, Camorristi, Handwerkern, zutiefst gläubigen, die Madonna verehrenden Personen, beinahe Heldenstatus geniessenden Leuten?

Supino zeichnet ein packendes, farbenstarkes Bild mit ebenso eigenwilligen wie eigenartigen Figuren, beginnend mit der Zeit an der Via Nazionale, im Hinterland von Neapel. Wer über Mitbewohner zu viel wusste, zuckte bloss mit den Schultern, wenn das Gespräch auf sie kam. Da ist beispielsweise die Rede von der schwermütigen Ninella und die hysterische Tochter Loredana und einen Laden, in dem Teigwaren zum Kauf angeboten sind. Hin und wieder fährt der Boss Mario o`Nzurdoso vor, in gepflegten teuren Autos, samt Gefolge, bestehend aus Advokaten, kräftigen jungen Männern und lebensfroher Weiblichkeit. Sie alle werden fürstlich bekocht, dann geht es weiter – weg in neue Geschehnisse. O `Nzurdoso ist geachtet, angesehen, hat alles, was Geld, Einfluss und Schwierigkeiten mit der Justiz beinhaltet.
Davon erzählte der Nonno, ergänzt von Erfahrungen, Vermutungen und Erkenntnissen des Namenlosen, der wie immer seine Ferien in Süditalien verbringt und vieles aufnimmt, zu durchschauen vermeint. Geschrieben wird von vielen kleinen Begebenheiten, die sich zu einer Ganzheit fügen. Haftentlassung, Heirat, Wegzug, Reichtum, Alltagsarbeit, sich wiederholende Sommeraufenthalte im Hinterland von Neapel. Dauerhaftes Verbleiben ist unmöglich, es ergeben sich traditionsgebundene Reisen – auch wegen des Schneiderns und Anpassens von Massanzügen im Atelier des Maestro Gennaro Ippolito.

Der Namenlose, Forschende mit der Schweiz und Neapel gleichermassen Verbundene, trifft sich anlässlich eines Benefizkonzerts mit Lodovico, einem Dirigenten und Orchestermusiker. Es öffnen sich Kanäle, durch die Kontakte mit der Camorra möglich werden, dies beispielsweise mit Maurizio, einem Muskelprotz mit wilden Tattoos. Es folgen das Eintauchen und Auseinandersetzen mit wilden, dunklen Geschichten, samt Drogen, Bodyguard, Dealen, italienischer Gastfreundlichkeit.
Die Suche und das Begegnen führen an ständig neue Orte. Nicht selten sind kurze Gespräche Auslöser fürs Weiterführen der Suche. Da sind beispielsweise das Familiengrab der Espositos, der Ausflug nach Pompeji, die Frage, ob der schwarze Junge Antonio von der Familie Esposito adoptiert worden sei. Wer sich ausserhalb festgesetzter Normen bewegt, zu eigensinnig agiert, wird bestraft. Supino zeichnet das gewissenhaft und kenntnisreich nach. Man wird auf eine enorm lange Reise mitgenommen, lernt Camorra-Mechanismen kennen, die unerwartet, heftig, brutal sind.

Supinos Schildern ist detektivisch exakt, zeichnet nach, was bedeutsam ist. Er trifft Signora Rosetta Esposito, befragt sie, zeigt auf, was er als Schriftsteller plant. Einer Menge Brosamen nicht unähnlich kommen die Antworten, werden zum Ganzen gefügt.
Schritt für Schritt wächst alles, was mit den Espositos, dem schwarzen Camorrista Antonio Esposito, als o `Nirone bekannt und der Migrantenstadt Castel Volturno und den Elendsvierteln von Neapel zu tun hat. Eine zentrale Begegnung vollzieht sich mit dem Besuch des Wohnhauses der Espositos und dem Bekanntwerden mit Rosetta Esposito. Die Antworten auf Fragen, die Antonio betreffen, erhält der Autor häppchenweise. In Castel Volturno wurde Antonio, der schwarze Camorrista, laut Rosetta von den Nigerianern erschossen. Er sei für die Familie gestorben, so Rosetta.
Eine der zentralen Rollen kommt dem Avvocato zu. Weiteres betrifft den häufigen Wechsel zwischen der Schweiz und Neapel, alles willkommen detailliert, farbig, leidenschaftlich, lebhaft und kontrastreich dargestellt.

Es war Sache von Swantje Kammerecker, die zahlreich erschienenen Literaturfreunde im Linthpark zu begrüssen. Franco Supino, in Solothurn lebend, pendelt zwischen seiner «zweiten» Heimat und dem fernen Neapel hin und her. Nach dem nur wenige Sekunden dauernden Erdbeben vom 4. November 1980 mit 7000 Toten und 400 000 Odachlosen und einer unglaublichen Zerstörung wanderte er mit den Eltern in die Schweiz aus, pflegt aber immer noch tiefe Kontakte zu seiner Heimat, die so viele Geheimnisse und Erkenntnisse birgt. Er kehrt nicht selten nach Neapel zurück, will den Geheimnissen der Camorristi auf die Spur kommen. Er, der in der Ich-Form erzählt, fragt sich ausdauernd durch, will dem Leben des Antonio Esposito auf die Spur kommen. Er ist der beharrlich Fragende, der so viele wechselvollste Antworten kriegt. Es wurde in der Einleitung auf Supinos literarisches Schaffen, auf erschienene Bücher, hingewiesen. Eigentlich wollten ihn die Verantwortlichen von Bäschlin littéraire bereits vor drei Jahren willkommen heissen. Das scheiterte wegen Corona.

Man wurde nach Neapel entführt, Supino schildert riesig farbig, wirblig, tiefgründig, kenntnisreich und eindringlich. Man spürt seine Ehrlichkeit, seine Skepsis, wenn er Antworten erhält, die so nicht stimmen können. Er befasste sich mit der Zuwanderung, dem Unverständnis zwischen Einheimischen und Fremden, er zeigte auf, wie man in Neapel funktionieren kann – sofern man denn will.
Er schilderte die schlechten, kaum funktionierenden Verbindungen zwischen den schäbigen Aussenquartieren und dem Zentrum. Er lässt Alteingesessene zu Worte kommen, hofft auf gültige Antworten. Er redet über die Verschwiegenheit der Mafia-Clans und die Auskunftsbereitschaft der Camorra. E zeigt auf, weshalb gerade in Frauenfeld den jungen Camorristi Schiessunterricht erteilt wurde.
Zum Buch wurden viele Fragen gestellt. Ein Weiterführen ergab sich beim offerierte Apéro und den damit verbundenen Gesprächen.

Am 26. Oktober ist im Fabriktheater Schwanden der letzte Anlass dieser Saison angeboten. Es geht um ein literarisch-theatralisches Konzert von Daniel R. Schneider nach dem Roman von Emil Zopfis historischem Roman «Der Untergang des Delphin».