Der kalte Kaffee und die feinen Gipfeli morgens um vier Uhr auf dem Weg zum Flughafen vermochten die 28 Turner des MTV Ennenda noch nicht so richtig wecken. Kalter Kaffee war die Reise jedoch nicht, sondern ein eindrücklicher Rückblick, ja eine Lehrstunde in die polnische, speziell der Krakauer Geschichte. Eine Geschichte, die betroffen, ja wütend macht. Sie widerspiegelt aber auch die Sehnsucht und den starken Willen des polnischen Volkes auf Eigenständigkeit. Aber alles der Reihe nach.
Der erste Tag diente dem Sammeln von Eindrücken einer Stadt, die bei Herr und Frau Schweizer als Reiseziel kaum wahrgenommen wird. Die sonnige Dachterrasse des Hotels Pod Wawelem, unterhalb vom Schloss Wawel und mit Blick auf die gemächlich fliessende Weichsel, war dafür wie geschaffen. Reiseleiterin Malgorzata bat die wissensdurstige Gruppe, vorbei am Wahrzeichen der Stadt Krakau, dem feuerspeienden Drachen, zur zweistündigen Schifffahrt zur Benediktinerabtei Tyniec. Nach wochenlangem Regen in der Heimat lechzten die wackeren Glarner nach Sonne und genossen das warme Wetter in vollen Zügen. Die unverbauten Uferlandschaften, weitab vom Zivilisationslärm und eine mit viel Liebe zubereitete Grillade, war Balsam für Auge, Seele, Geist und Magen. Nach der Besichtigung der Abtei war es vorbei mit der Ruhe. Die Stimmung im Partybus vermochte die Kräfte der doch langsam ermatteten Mannen nochmals zu mobilisieren.
Der zweite Tag stand im Zeichen des schrecklichsten Kapitels der Weltgeschichte: Der Besuch der Konzentrationslagers Auschwitz und des Vernichtungslagers Birkenau. Die systematische Vernichtung von Juden, Sinti, Roma, Intellektuellen und vor allem Kindern ist mit später aufgetauchten Originaldokumenten, Bildern und persönlichen Effekten eindrücklich dokumentiert. Auf der Rückfahrt nach Krakau herrschte im Bus eine Stimmung der Betroffenheit, Wut und Besorgnis. Der Freitag stand im Zeichen der jüdischen Geschichte Krakaus. Die rund 60 000 jüdischen Bewohner wurden bereits 1939 vom jüdischen Stadtteil Kazimierz auf die andere Seite der Weichsel zwangsumgesiedelt. Auf einer Fläche, wo vorher 3000 Menschen wohnten, wurden, von einer Mauer umschlossen, 15 000 Menschen eingepfercht. Die architektonische Gliederung der Ghettomauer hat sich an jüdischen Grabsteinen orientiert. Aus diesem Ghetto ist der damals 8-jährige Roman Polanski, heute ein berühmter Regisseur, geflüchtet. Seine Mutter hatte zwei Kinder, aber nur Mittel um das Bestechungsgeld für ein Kind zu bezahlen. Sie entschied sich für den jüngeren Roman. Romans Schwester und seine Mutter überlebten nicht. Auch Helena Rubinstein vom gleichnamigen Kosmetikunternehmen lebte in Krakau. Die Originalschauplätze aus dem Film «Schindlers Liste» können heute noch unverändert besichtigt werden, ebenso die damalige Emaillefabrik-Schilder, heute ein Museum, welche den Stoff für den Film lieferte. Kazimierz ist heute In- Ausgehmeile für Studenten mit schrägen Clubs und Restaurants.
Das Salzbergwerk Wieliczka gehört seit 1978 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Bergarbeiter haben über Jahrhunderte, nebst dem kommerziellen Salzabbau unter Tage, in ihrer Feizeit immer wieder Skulpturen aus Salz geschaffen, die heute in einem weitverzweigten Stollensystem, bis 135 m unter der Oberfläche, besichtigt werden können. 35 Meter hohe Kapellen, unterirdische Salzseen und eine Kirche, in der Gottesdienste abgehalten werden, bringen den Besucher während der über zweistündigen Führung zum Staunen. Als überwiegend katholisches Land zählt Krakau 182 Kirchen. Jede mit ihrer eignen Geschichte. Bei Touristen sehr beliebt sind die Kirchen, wo Bischof Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II, gewohnt und gearbeitet hat. So wundert es nicht, dass auch eine Statue vom Papst in Salz gehauen wurde.
Polen war über die Jahrhunderte immer wieder von unterschiedlichen Mächten besetzt, geteilt oder wurde erobert. Waren es im Mittelalter das litauische Königshaus, der russische Zar, die Preussen oder die Österreicher (bei uns kaum bekannt, aber bis zum Ersten Weltkrieg herrschte Kaiser Franz Josef in Krakau), die sich Polen aufteilten, waren es am Ende des Zweiten Weltkrieges die Siegermächte Russland, England und Amerika, die Stalin Polen überliessen. Das Leben unter russischer Herrschaft war denn auch Thema des letzten Tages. Malgorzata Kieres war an diesem Tag nicht nur Reiseleiterin, sondern auch Zeitzeugin. Anfang der Siebzigerjahre geboren, stand sie als Kind schon am frühen Morgen stundenlang für Esswaren in der Warteschlange, abgelöst von den Geschwistern und Eltern. Und das vor 30 Jahren, als wir uns im Westen überlegten, wohin wir in Urlaub fahren sollen. Die ganze Wucht der russischen Repression ist noch gegenwärtig. Die Kommunisten errichteten ausserhalb von Krakau die Retortenstadt Nova Hutta. Mit für damalige Verhältnisse grossem Komfort und allem was das Herz begehrte, diente Nova Hutta als Propaganda für den Kommunismus. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs Anfang der Neunzigerjahre ist Polen wieder eigenständig. Für die Erhaltung dieser Eigenständigkeit arbeitet die Bevölkerung hart und wünscht sich, diese für immer bewahren zu können. Mit der Fahrt im Trabant, dem Vorzeigeauto der damaligen Zeit, endete die interessante Turnerreise.
Was bleibt von dieser Reise? Der Eindruck einer geschichtsträchtigen, wunderschönen und sauberen Stadt, die einen Besuch verdient hat und lohnt, sie zu besuchen. Ach ja, auch kulinarisch ist Krakau eine Reise wert. Eine Stadt für Entdecker, viele Restaurants sind in tiefen Kellern oder Hinterhöfen «versteckt». Ganz abgesehen von den vielen Musik-Clubs, die für jeden Geschmack etwas bieten, auch wenn High Live für die gesetzteren Semester etwas spät beginnt.
Nach einem ruhigen Flug durfte der Organisator Ernst Schreiber als Dank einen grossen Applaus ernten. Der Applaus galt ebenso der lokalen Reiseleiterin Malgorzata, einer engagierten Botschafterin ihrer Stadt, die sie liebt. Aktiv an der Planung beteiligt, zog sie die Turner mit viel Wissen, Herz und Humor in ihren Bann.