Entschleunigung

Wir hetzen immer schneller durch den Alltag. «Immer schneller nirgendwohin», schrieb der «Beobachter» in seiner Ausgabe vom 25. Juni. Und in den Ferien?



Gähnende Leere statt volle Agenda: Die Sommerferien machens möglich. (Bild: Madeleine Kuhn-Baer)
Gähnende Leere statt volle Agenda: Die Sommerferien machens möglich. (Bild: Madeleine Kuhn-Baer)

Endlich Sommer! Zeit, die Seele baumeln zu lassen! Wie herrlich ist ein Blick in die Agenda: Wo sich sonst die Termine tummeln, herrscht nun gähnende Leere. «Coiffeur» steht noch drin. Oder ein Abendessen mit Freunden. Ansonsten ruht das Leben. Sitzungen finden während der Sommerferien keine statt, auch die Politik macht Pause.

Ich liebe diese Zeit! Am Anfang ist es zwar jeweils seltsam, ich muss mich regelrecht umgewöhnen. Wie oft checke ich die E-Mails, obwohl keine neuen eingetroffen sind. Auch der Pöstler bringt nur noch eine geringe Zahl von Briefen. Regelmässig flattern nur die Zeitungen ins Haus. Doch auch sie haben ihren Umfang deutlich verringert.

Die Sommerferien wären also die ideale Zeit für eine Entschleunigung. Der «Beobachter» gibt dazu zehn Tipps – allerdings sind nicht alle gleich gut gelungen. «Schmeissen Sie Ihren Fernseher raus. Er ist eine Zeitfressmaschine», heisst es zum Beispiel. Wie bitte? Und wo hätte ich dann in aller Ruhe die Fussball-WM-Spiele anschauen sollen? Oder meine heiss geliebten Krimis? «Züchten Sie Bonsais und schauen Sie ihnen beim Wachsen zu», so ein weiterer Tipp. Gut gemeint, aber das dauert mir zu lange. «Zeugen Sie Kinder. Sie geben zwar viel Arbeit, zwingen aber zur Langsamkeit» – meine biologische Uhr macht da nicht mehr mit. Zudem habe ich bereits eine (erwachsene) Tochter. «Ziehen Sie in die Stadt. Pendeln ist öde und zeitraubend» – danke für den Tipp, das Land wird entvölkert. Kann nicht ernst gemeint sein!

Da gefallen mir folgende Beispiele schon besser: «Setzen Sie Prioritäten: dringend, halb dringend, nicht dringend. Vergessen Sie Nichtdringendes sofort.» Das mache ich seit Jahren so. Oder: «Kaufen Sie sich einen alten Hund. Er entschleunigt Ihr Leben rapid.» Das stimmt. Wir haben einen alten Hund, allerdings durfte er sein ganzes Leben bei uns verbringen und ist nicht neu gekauft. Schmunzeln muss ich bei folgendem Tipp: «Schrauben Sie alle Sicherungen heraus und behaupten Sie dann, der Blitz habe eingeschlagen. Der Abend bei Kerzenlicht wird in Erinnerung bleiben.» Wohl auch gut gemeint, aber einen Abend bei Kerzenlicht kann ich ja auch ohne Herausschrauben der Sicherungen geniessen.

Ich bleibe bei der Entschleunigung, die ich schon länger – zumindest während der Sommerferien – praktiziere: Nicht meinen, alles planen zu müssen, sondern mehr in den Tag hineinleben. Getreu dem Motto «Carpe diem» – geniesse den Tag! Spontan nach Lust und Laune entscheiden, wie ich den Tag verbringen will. Das kann im Büro sein – aber auch auf einem Ausflug irgendwohin. Die dreckige Wäsche kann auch mal warten. Und das Mittagessen in einem lauschigen Gartenrestaurant ist doch ebenfalls verlockend.

Rennen kann ich nachher wieder, wenn die herrliche Ferienzeit vorüber ist und der Alltag uns erneut gnadenlos in den Würgegriff nimmt. Dann bin ich zu einem Teil wieder fremdbestimmt, dem kann auch ich mich nicht entziehen. Ich kann aber ganz bewusst weiterhin meine Prioritäten setzen. Der alte Hund ist hoffentlich auch noch da, um mir beim Entschleunigen zu helfen. Und sollten mal alle Vorsätze nichts mehr fruchten, schraube ich doch die Sicherungen heraus. Das entschleunigt rapide! Die Kerzen kann ich ja schon mal bereitstellen, wenn es sein muss ...